Nach sehr langer Pause (wegen Krankheit und technischer Unzulänglichkeiten):
Seit über einem Jahr gibt es in Stuttgart Proteste wegen des geplanten Umbaus des Bahnhofs in einen unterirdischen Bahnhof. Der Streit spaltet die Stadt in Gegner und Befürworter. Er lässt die Landesregierung um die Wiederwahl bangen. Und das alles wegen eines Bahnhofes? Nein. Der ist nur der Auslöser.
Diesen Streit erklärt ein fiktives Gespräch:
• Frage: Wie funktioniert Demokratie?
Antwort: Man wählt Leute von denen man meint, dass sie so entscheiden werden, wie man es selbst wünscht.
• Warum?
Weil man sich nicht um Alles selbst kümmern kann; vielleicht auch nicht von Allem genug versteht.
• Das heißt also: Wir wählen Leute, die sich um unsere Interessen kümmern sollen, weil wir weder Kraft noch Zeit haben uns um alles selbst zu kümmern?
Ja. Demokratie spart sozusagen Energie, indem sie Aufgaben an die Gewählten abgibt, so dass dem Einzelnen Zeit und Kraft bleibt sich um seine ganz alltäglichen Aufgaben, also Beruf, Familie aber auch Freundeskreis und Liebhabereien zu kümmern.
• Woran würde man merken, wenn die Gewählten diese Aufgabe nicht vollständig, anständig oder redlich erledigen?
Wenn etwas schief geht, wenn irgend etwas nicht mehr richtig funktioniert, wenn es Streit oder Ungerechtigkeiten gibt.
• Wie würde man das feststellen? Unzufriedene gibt es doch immer?
• Aber wenn sehr Viele aufbegehren, unzufrieden sind, oder ärgerlich, das wäre schon ein Hinweis.
• Schön. Aber wie könnte man sicher sein, dass es nicht nur irgend eine Modeerscheinung ist, sondern dass wirklich die Gewählten ihre Aufgaben nicht erledigt haben?
Vermutlich müsste man deren Entscheidungen prüfen. Ob dafür gründlich alle Fakten geprüft wurden; ob sie sich vorher kundig gemacht haben, Rat einholten, oder Vorkehrungen trafen, damit sie ihre Entscheidung, falls sie falsch wäre, ändern könnten.
• Das wäre aber eine ziemlich aufwendige Arbeit! Man müsste Protokolle lesen, ins Archiv gehen, Leute befragen, also genau das wofür man eigentlich keine Kraft oder Zeit hat und wofür man die diese Leute gewählt hat. Gibt es kein einfacheres Verfahren, um fest zu stellen, ob die Gewählten ihre Aufgaben auch ordentlich gemacht haben?
Naja, schön wäre natürlich wenn andere Gewählte, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, auf die hinweisen, die es nicht tun. Aber man weiß dann als Bürger nicht, ob sie das tun, um selbst an die Macht zu kommen, oder ob es ihnen wirklich darum geht, dass da Einige zwar die Sitzungsgelder kassieren, aber dann die verlangte Arbeit nicht richtig erledigen.
• Wenn so ein Verdacht geäußert wird, dann bleibt also dem Bürger nichts anderes übrig, als sich genau in die Arbeit zu vertiefen, für die er eigentlich jemand gewählt hat, um zu überprüfen, ob der auch anständig gearbeitet hat?
Ja, das lässt sich vermutlich leider nicht vermeiden.
• Das bedeutet dann aber wahrscheinlich auch, dass das erst geschieht, wenn ziemlich viel schief läuft?
Sehr wahrscheinlich, denn eigentlich ist der Bürger ja froh, wenn andere sich mit diesen schwierigen Aufgaben herum plagen und er selbst es nicht tun muss.
• Also ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Bürger ihre Gewählten kontrollieren?
Nein. Sie verlassen sich ja auch auf die Medien deren Aufgabe es wäre, die Gewählten zu kontrollieren.
• Heißt das, dass die Gefahr, das Gewählte schlampen um so größer wird, je schlechter die Medien sind, weil dann die Gefahr ertappt zu werden geringer wird?
Vermutlich schon, denn wenn es den Medien an Zeit, Kraft oder Geld fehlt die Aufgaben selbst auch gründlich zu durchdenken und die Entscheidungen der Gewählten zu überprüfen, dann fällt es zumindest zunächst niemand auf, wenn da jemand seine Arbeit nicht gründlich macht.
• Ja, merken das die Bürger denn nicht, wenn die Medien schlechter werden und ebenfalls ihre Aufgabe nicht richtig wahrnehmen?
Wahrscheinlich erst nach längerer Zeit, denn so ein Qualitätsverlust kommt ja nicht von heute auf Morgen - es sei denn eine Zeitung, ein Sender wird geschlossen - sondern da fehlt mal hier ein Thema, mal dort ein kritischer Gedanke, da wird etwas so kurz behandelt, dass der Bürger das eigentliche Problem gar nicht erkennt, oder es werden Themen gewählt, die sehr unterhaltsam sind und von den eigentlich wichtigen Themen ablenken.
• Also merkt der Bürger erst sehr spät, wenn etwas schief läuft, vor allem, wenn die Medien sich um ihre Wächterrolle drücken?
In den meisten Fällen dürfte das so sein. Es sei denn die Entscheidung der Gewählten trifft alle Bürger sofort, wie bei einer Steuererhöhung.
• Wenn jetzt Pläne für ein Bauwerk vorgestellt werden, das vielleicht einmal in vielen Jahren gebaut werden soll, dann dürfte das zunächst mal weder bei den Medien noch bei den Bürgern besondere Aufregung verursachen, denn es sind ja nur Pläne, über die man - so scheint es - noch viele Jahre wird reden können?
• Richtig. Normalerweise diskutiert man solche Pläne und schließt - wenn sie Erfolg versprechend und lohnend scheinen - eine Vereinbarung, dass man die Pläne untersuchen wolle.
• Man prüft also genauer, so wie man die Kataloge desjenigen Herstellers genauer prüft, dessen Kühlschrank, Auto, Kamera oder Computer man zu kaufen erwägt?
Natürlich, man will ja nicht die Katze im Sack kaufen!
• Und wenn dann einen Plan, oder eine größere Anschaffung in die engere Wahl kommt, dann schaut man sich den genauer an. Beim Auto würde man sich die technischen Daten anschauen, bei einer Reise die im Preis enthaltenen Ausflüge und bei einem Gebäudeplan, ob es auch alles Nötige bietet?
Genau, so geht jeder vernünftige Mensch vor.
• Und dann geht man zur Bank und fragt, ob man den nötigen Kredit bekäme?
Ja, und die Bank wird wissen wollen wofür man das Geld verwenden möchte und dann auch Sicherheiten verlangen.
• Etwa eine Kreditausfallversicherung, oder Lebensversicherung mit dem gleichen Zweck, wenn der Mensch, der den Kredit will, plötzlich stirbt?
Ja, oder ein Reiseveranstalter wird eine Reiserücktritts-Versicherung anbieten, damit das Geld für die Reise nicht weg ist, falls man krank wird und nicht verreisen kann.
• Und was hat das jetzt mit dem Umbau des Stuttgarter Bahnhofs zu tun?
Da hat man genau das nicht gemacht. Man hat 1995 einen Vertrag geschlossen, der keine Klausel enthält, die es einem der Beteiligten erlauben würde aus dem Vertrag auszusteigen. Die Bahn hat den Vertrag so gestaltet, dass das Land und die Stadt ihn selbst dann erfüllen müssten, wenn sie dadurch Pleite gingen.
• Das sieht ja ganz so aus, als ob die Gewählten hier einen groben handwerklichen Fehler gemacht hätten?
In der Tat. Sie haben sich zu etwas verpflichtet, dessen Folgen sie damals noch gar nicht absehen konnten.
• Warum?
Weil die Bahn selbst damals noch gar nicht so genau wusste, welche Kosten da entstehen und wie der Bahnhof funktionieren würde.
• Warum nicht?
Man hatte ja zum Beispiel den Untergrund noch gar nicht durch Probebohrungen untersucht, man hatte noch keinen Fahrplan entworfen und mit ihm überprüft, ob der Bahnhof denn auch wirklich funktioniert.
• Die Gewählten haben also die Katze im Sack gekauft und trotzdem kein Umtauschrecht, ja nicht einmal eine Garantie dafür verlangt?
Richtig, sie haben sich ein bisschen so verhalten, wie Hans im Glück, der vor lauter Freude über seine gelungenen Tauschgeschäfte gar nicht merkt, dass er jedes Mal drauf zahlt.
• Aber die Bahn hat die Pläne unter ihrem Chef Johannes Ludewig doch selbst gestoppt. Hat denn da keiner der Gewählten gemerkt, dass die Geschichte fragwürdig ist?
Jein. Man hatte Angst aus dem Traum aufzuwachen und bot der Bahn zusätzliches Geld an, damit sie doch wieder weiter macht. Stadt, Land und Flughafen machten Millionen locker.
• Könnte das auch aus Angst davor gewesen sein, dass der Bürger den Gewählten, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten, auf die Schliche gekommen wäre?
Das weiß ich nicht. Denkbar wäre es. Aber viele Bürger hoffen auch heute noch: „Die da oben wissen schon, was sie tun.“
• Könnte es nicht sein, dass der Bürger sein Vertrauen in die Gewählten nicht völlig verlieren möchte, weil er Angst hat, was dann geschehen würde, geschehen müsste?
Natürlich, Enttäuschungen tun meistens weh. Und hier geht es ja nicht nur um einen Laden, dessen Service einen enttäuscht hat, weswegen man in Zukunft woanders einkaufen wird, sondern es geht darum, dass hier eine grundlegende Verabredung der Demokratie verletzt wurde:
Die Gewählten haben den Vertrag, den sie bei der Wahl mit den Wählern geschlossen haben, gebrochen, denn der lautet: „Wähle mich. Ich verspreche Dir Deine Interessen zu vertreten.“
• Es handelt sich also um einen Vertragsbruch derjenigen, die der Bürger gewählt hat?
Ja. Kein Wunder, dass die Einen tief enttäuscht sind und die Anderen es einfach nicht wahrhaben wollen.
• Dann geht der Streit also im Grunde gar nicht so sehr um einen Bahnhof, sondern um die Einhaltung demokratischer Spielregeln?
Sehr richtig. Wer den Vertrag zwischen Wähler und Gewählten aufkündigt, oder nicht erfüllt, der gefährdet damit das Gemeinwesen. Er stellt die Demokratie in Frage!