Herrschaftswissen gegen Schwarmintelligenz
Machtausübung, und damit auch der größte Teil der Politik, basierte bisher auch darauf, dass man über bessere Informationen und mehr Wissen verfügte, als die Beherrschten. Die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 samt der Schlichtung hat gezeigt, dass das in Zeiten des Internets nicht länger uneingeschränkt gilt.
Stellte noch die Frankfurter Schule vor rund 50 Jahren sinngemäß fest, dass "die Herrschenden ein Interesse daran haben, die Beherrschten in einer gewissen Unmündigkeit zu halten", was gegen das Ideal vom mündigen Bürger in einer Demokratie sprach, so hat Stuttgart gezeigt, dass Herrschaftswissen durchaus von Schwarmintelligenz in Frage gestellt werden kann, seit es das Internet gibt.
Schon das Internetlexikon "Wikipedia" zeigte, dass Viele gemeinsam eine Qualität erreichen können, wie man sie bis dahin nur professionellen Lexika-Redaktionen zutraute. Ähnlich zeigte die Alternativplanung der Gegner, die den Kopfbahnhof unter dem Kürzel K21 modernisieren wollen, dass eine engagierte Gemeinschaft zu ähnlicher, wenn nicht besserer Leistung in der Lage ist, wie die professionellen Planer der Bahn.
Dahinter steckt, dass bei einer ausreichend großen Gruppe fast immer jemand dabei ist, der jemand kennt, der auf irgend einem Gebiet fachlich kompetent ist, oder wenigsten weiß, wo man das nötige Wissen findet. Das ist kein Hexenwerk, sondern lässt sich - wie an der Universität Stuttgart schon vor Jahren von Prof. Paul Levi, Leiter des Institutes für Verteilte und Parallele Systeme der Universität Stuttgart zeigte - mit relativ einfachen Maschinen erzeugen. Der Roboterschwarm im Keller des Institutes besteht aus über hundert knapp drei Zentimeter langen Würfelförmigen Robotern, die je nach Versuchsprogramm und individuellem Ladezustand der Batterie mal zum Futtertrog, der Ladestation streben, mal andere Roboter mit einem Aufleuchten einer Leuchtdiode begrüssen, mal zur hellsten und wärmsten Stelle auf dem Versuchsfeld fahren und das, ohne, das ein Mensch von außen dafür Befehle gibt. Im Gegenteil dieser Schwarm lässt sich zwar als Gesamtheit steuern, aber nicht das Individuum. So ähnlich, wie ein Bienenschwarm stets versuchen wird zu überleben, egal, wie. Es handelt sich um einen Vorgang, den man "Selbstorganisation" nennt.
Diese Selbstorganisation auf freiwilliger Basis fand bei den Gegnern von Stuttgart 21 in einem Maße statt, wie es die Politik bisher vermutlich nicht für möglich hielt, oder überhaupt nicht kannte. Und sie lässt sich nur schwer beeinflussen. Vor einiger Zeit wurden die vielen Plakate und Bilder des Bauzaunes entfernt, um sie für die Nachwelt im Museum zu sichern. Aber ist der Bauzaun bereits wieder von vielen neuen Plakaten geschmückt. Er ist eine Art Wandzeitung mit hohen Symbolcharakter, die sich der Planung entzieht. Sei es, weil jeder etwas dran hängen könnte, sei es weil sich manches besonders gelungene, oder besonders ansprechende Kunstwerk gestohlen wurde.
Die Politik hat diese Phänomen der Schwarmintelligenz (trotz Schätzings Buch "Der Schwarm") in seiner Tragweite noch gar nicht begriffen. Es war die Politik, die aus der Bundesbahn ein Börsennotiertes Privatunternehmen machen wollte und die Bahn zum Sparen drängte mit all den unerfreulichen Folgen, wie Langsamfahrstellen, Verspätungen, Rad- und Achsproblemen, unzulängliche Technik bei Hitze und Kälte. Die Bahn ihrerseits spielte mit und drängte nur die Politik ihr große Flächen in den Innenstädten für teures Geld abzukaufen, Schnellfahrstrecken zu bauen, um dem Flugzeug Konkurrenz zu machen und Bahnhöfe zu erneuern. Den Neubau zahlen vor allem die Steuerzahler, eine Renovierung müsste die Bahn selbst bezahlen.
Nachdem sich die Politik beim Cross-Border-Leasing, oder der Lkw-Maut bereit zeigte Verträge, deren Tragweite dem einzelnen Parlamentarier nicht klar sein konnten, oder Geheimverträge zu akzeptieren, drängte auch die Bahn darauf, dass man ihr bei der Planung und Durchführung von Stuttgart 21 freie Hand gewähre, auch wenn sich der Bundesrechnungshof dagegen aussprach.
Allerdings hatte man nicht damit gerechnet, dass die Bürger das junge Medium Internet nützen könnten, um die Pläne der Hochglanzbroschüren und Werbefilmchen zu analysieren und sich kundig zu machen, welche Folgen das für die Benutzer haben könnte. Eine Aufgabe, die eigentlich die Parlamentarier 1995 vor der Abstimmung über das Projekt hätten leisten müssen.
Natürlich dauerte es länger, bis die ganze Tragweite des gigantischen Projektes erkannt wurde. Die Bahn versuchte ja in bewährter Manier ihr Herrschaftswissen für sich zu behalten. Das hatte sich ja schon bei der Ausschreibung der Regionalverkehrs bewährt, bei der in Stuttgart alle Konkurrenten absprangen, weil sie auf Grund der von der Bahn gelieferten Unterlagen keine brauchbare Kalkulation erstellen konnten. Sie verweigert ja den Parlamentariern heute noch den Einblick in die Wirtschaftlichkeitsberechnung zu Stuttgart 21. Auch der Bundesverkehrswegebedarfsplan weist an zwei Stellen darauf hin, dass die Bahn keine belastbaren Zahlen vorgelegt hat.
Statt dass die Parlamentarier und der Bund als Besitzer der Bahn dieser Bahn nun sagten: Bevor wir nicht alle nötigen Unterlagen haben, um fundiert und sachgerecht zu entscheiden, gibt es keinen Cent Steuergelder und keine Entscheidung, ließ sich die Politik über den Tisch ziehen und war vielleicht sogar froh sich nicht mit den lästigen Details beschäftigen zu müssen. Die Bahn bekam also weitgehend freie Hand. Dass damit demokratische Spielregeln gebrochen wurden, war den Beteiligten vielleicht schon gar nicht mehr bewusst. Man hatte ja in der Vergangenheit sehr viele Projekte großzügig durch gewinkt und das Recht der Parlamente beschneiden lassen.
Nur im Zeitalter des Internets konnte das - siehe Wikileaks - nicht mehr gut gehen. Sobald solche Entscheidungen eine große Zahl von Menschen betreffen, oder an ihnen eine große Zahl mitwirken muss, sorgt das Internet mit seinen Möglichkeiten dafür, dass auch solche Informationen öffentlich werden, die die Mächtigen eigentlich nicht öffentlich werden lassen wollen.
Etwa dass bisher niemand in einer gründlichen Simulation überprüft hat, ob der Tiefbahnhof wirklich leistungsfähiger wäre. Und dazu muss man nicht einmal ein Computerprogramm nutzen, sondern eine entsprechend große Modellbahnanlage genügte. Oder, dass die Wirtschaftlichkeit der neuen Albüberquerung nur dadurch gesichert ist, dass man auf der Schnellfahrstrecke, die steiler ist, als die bisherige Geislinger Steige, auch Güterzüge plant, für die es bisher aber weder einen Bedarf, geschweige denn Züge gibt. Es könnte also sein, dass, wie vom Europäischen Rechnungshof bei der Schnellfahrstrecke Nürnberg-Ingolstadt bemängelt, sich ebenfalls erst nach Fertigstellung zeigt, dass dort keine Güterzüge verkehren können, weil der Luftzug im Tunnel bei hohem Tempo dazu führen würde, dass die Wagen sich berühren, also kollidieren.
Es geht hier nicht um Stuttgart 21, sondern darum zu verstehen, dass mit Hilfe des Internets die Zeit des Herrschaftswissens zu Ende geht und die Zeit der Schwarmintelligenz eine neue Qualität demokratischen Diskurses ermöglicht. Nur hat der größte Teil der Politik das noch nicht in seiner vollen Tragweite erkannt, geschweige denn verstanden, denn das bedeutet Absprachen im Stillen Kämmerlein, oder, wie man es in Stuttgart nennt, eine Maultaschen-Connection, das wird in Zukunft immer weniger möglich.
Für das Gemeinwesen Stadt, Land oder Staat bedeutet das jedoch einen großen Schritt zu höherer Qualität, weil mehr Menschen an Entscheidungen beteiligt werden könnten. Zumindest an solchen, von denen sie betroffen sind, oder zu denen sie etwas beitragen können.
Das bedeutet allerdings für den Einzelnen, dass er sich für den Staat auch mehr engagieren kann, ja muss. Die Gegner von Stuttgart 21 haben ja unzählige Stunden aufgewendet, nicht nur zum Demonstrieren, das war nur das am Ende sichtbare Aufbegehren, sondern zunächst mal um sich kundig zu machen, Einwände zu formulieren, die Medien mit Leserbriefen auf Schwachstellen aufmerksam machen und mit der Erstellung von Alternativen.
Der Streit um Stuttgart 21 markiert also nicht nur den Niedergang des Herrschaftswissens und den Aufstieg der Schwarmintelligenz, sondern er deutet zumindest auch darauf hin, dass unser Gemeinwesen offenbar doch noch so gesund ist, wie ein Bienenschwarm, der eben auch versucht in jedem Fall als Ganzes zu überleben.
Dass dazu ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und Gewählten nötig wird und neue Organisationsformen der Demokratie, das sollte dann eigentlich nicht mehr so viel Sorge machen, wie es einige derer proklamieren, denen das Ganze noch unheimlich ist, weil sie ihre Macht schwinden sehen.