Vom Verschwinden
der Menschen
und damit der Menschlichkeit
 
Menschen und Menschlichkeit verschwinden vielerorts. Ein paar Beispiele:
In Stuttgart klaffen seit Jahren riesige unbelebte Brachen. Es begann mit dem Abriss des Stückgutbahnhofes, dann folgte der Abriss der Messehallen am Killesberg samt den bei Kindern sehr beliebten Wasserspielen im Eingangsbereich und im Sommer 2011 wurde ein ganzes Stadtviertel zwischen Tübinger Straße, Paulinenbrücke, Marien- und Sophienstraße platt gemacht, obwohl ein Teil der Gebäude noch gar nicht alt war. Nur auf einem dieser Gebiete baut ein Mensch, nämlich am Killesberg der österreichische Investor Fürst. Auf den anderen Gebieten bauen keine Menschen, sondern Investoren (Leute, die Geld übrig haben und daraus noch mehr machen wollen), Banken oder die öffentliche Hand. Und so sieht es dann meist auch aus. Anonyme Imponierarchitektur ohne Bezug zur Stadt oder zur Umgebung.
Da ist niemand, mit dem der Bürger den Bau verbinden könnte, niemand dessen Ehrgeiz es wäre mit dem Gebäude seinen Namen in die Stadtgeschichte einzuschreiben, die Gestalt des Gebäudes an das Gesicht der Stadt anzupassen, an ihre Bautradition anzuknüpfen. Niemand, der sich bemüht mit der Nachbarschaft persönlich und mit seinem Bau ein gutes Verhältnis zu gestalten. Nachbarschaft auf die man eingehen und Rücksicht nehmen könnte, gibt es bei derartigen Brachen nicht mehr. Und was jenseits der Straßenzüge geschieht, interessiert die Bauherren wenig. Etwa, dass die Läden dort während der Bauzeit Einbußen haben, dass die Anwohner schlecht schlafen, oder vom Dreck und Lärm der Baustelle daran gehindert werden ihre Wohnung, den Balkon oder Garten zu genießen.
Dass diese Wunden in der Stadt die Passanten oder Vorbeifahrenden schmerzen könnten, dass sich viele Erinnerungen mit den platt gemachten Gebäuden und ihren Außenanlagen verbinden, das zählt nicht. Gemacht wird, was Geld bringt. Oder womit man rasch Geld verdienen kann. Das Gebäude hinter dem Königsbau wurde am Tag nach der Einweihung verkauft. Man wusste wohl warum, denn die ach so schick geplante Einkaufswelt funktioniert nicht so, wie man es den Gemeinderäten und den Medien vorgegaukelt hatte.
Der Gemeinderat spielt bei dieser Entwicklung eine klägliche Rolle. Abgesehen einmal von tiefsitzender Unkenntnis in Fragen von Architektur und Städtebau bei einem Teil der Ratsmitglieder, haben die Räte oft auch gar nicht Zeit und Kraft einen derartigen Bau in seinen Auswirkungen gründlich zu durchdenken, ehe sie ihn genehmigen.
Das einzelne Ratsmitglied steht dabei einer gesichtslosen Gesellschaft gegenüber, die mit dem Rechtsanwalt droht und auf Verträge verweist, deren Bedeutung der einzelne Rat ebenfalls kaum zu durchschauen vermag. Er mag sich wie David gegenüber Goliath fühlen und verlässt sich drauf, dass die Verwaltung, oder sein Fraktionsvorsitzender das Projekt schon gründlich geprüft haben werde, und stimmt dann ab, wie es der Fraktionsvorsitzende empfiehlt. Dass auch Verwaltung und Fraktionsvorsitzende solche riesigen Projekte kaum gründlich prüfen können, weil ihnen Zeit und Kraft dafür fehlen, wird dabei wohlweislich verdrängt, genau so, wie das schlechte Gewissen, dass man sich eigentlich keine eigene Meinung gebildet hat, oder wenn eine, die auf bunten Computeranimationen beruht, deren Plausibilität und Wahrhaftigkeit der Einzelne wiederum kaum zu überprüfen vermag.
Ähnliches gilt bei Länder und Bundesparlamenten, deren Kontrollfunktion unter Anderem durch die schiere Größe der Projekte torpediert wird. Hinzu kommt, dass selbst die öffentliche Hand Geheimverträge schließt, die die Parlamentarier nicht kontrollieren können (z.B. 17000 Seiten zur LKW-Maut) oder dürfen, eben weil sie geheim sind. Auch die Privatisierung von Staatsbetrieben hat diese der Kontrolle durch die Parlamente entzogen (Bahn, Post, Telekom, Müllabfuhr, Energieversorger, Wasserwerke, usw.), oder durch Cross-Border-Leasing ausgehebelt (in Stuttgart konnte eine Straßenbrücke nicht über das Klärwerk gebaut werden, weil dieses verkauft und zurück geleast worden ist).
Was hier am Beispiel des Bauens skizziert wurde, findet sich heute in vielen Bereichen. Ganze Staaten zittern vor gesichtlosen Rating-Agenturen. Banken ebenso seit sie die Risikoanalyse außer Haus gegeben haben. Also richten sich Politik und Geschäftspolitik nach Leuten, die man nicht kennt, von denen man aber annimmt, dass sie besser Bescheid wüssten als man selbst. Das ist einerseits das Eingeständnis von Inkompetenz und andererseits der Versuch die Hände in Unschuld zu waschen. Wohin das führt kann man in Europa beobachten. Den Griechen verordnet man einen harten Sparkurs, der viele kleine Leute ins Elend stürzt. Selbstverständlich kann man nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Aber je weniger Menschen arbeiten und je geringer das Einkommen der Menschen, desto weniger Steuern und um so weniger wird ein Land seine Schulden begleichen können. Soviel Mathematik sollten auch Politiker beherrschen.
Wer hat den die Griechen und andere dazu verführt so große Schulden anzuhäufen? Waren das nicht Politiker und Banken? Haben nicht Rating-Agenturen noch Tage vor mancher Bankenpleite gute Noten erteilt? Auffallend ist, dass trotz all dieser zum Teil groben Fehler Politiker und Banker auf ihren Boni und Pensionen bestehen. Ein anständiger Handwerker dagegen haftet mit seinem gesamten Besitz, wenn er einen Fehler gemacht hat. Wieso werden Banker und andere besser gestellt? Weil der Handwerker seinen Kunden und Lieferanten auch in Zukunft in die Augen sehen können möchte. Die Damen und Herren aus den Etagen der Geschäftsführung großer Gesellschaften dagegen haben mit den Kunden und Lieferanten selten persönlich zu tun. Also braucht man sich auch vor denen nicht zu schämen. Das Schlimmste, was einem passieren kann ist, das man seinen Ehrentitel verliert, wie der ehemalige Chef der Schottischen Bank.
Ausdruck dieser Entmenschlichung sind auch all die Automaten, an denen sich der Kunde selbst bedienen soll. Der Kunde ist dem Unternehmen keinen menschlichen Mitarbeiter mehr wert. Dass ein guter Service die beste und persönlichste Werbung wäre, wird vergessen. Ähnlich ist es mit so genannten "hot lines". Meist ist nicht die Leitung heiß, sondern das Ohr des Anrufers, der oft erst durch Tastendrücken oder Spracheingabe bei einem Automaten sein Anliegen einsortieren muss, ehe er mit Musik bedudelt und selten früher, meistens später an einen Menschen vermittelt wird. Dass dieser Mensch in einem Callcenter - das Wort erinnert an "Callgirl", also Prostituierte -  in der Regel seine Gesundheit ruiniert und auch nur in etwa 80 % der Fälle für das Anliegen geschult wurde, weiß der Anrufer nicht. Seinen zuständigen Sachbearbeiter erreicht er kaum noch. Also kommt es zu einer für beides Seiten meist wenig erfreulichen Begegnung, selbst wenn dem Anrufer geholfen wird. Den Unterschied zwischen menschlichen Anrufbeantwortern und einem kompetenten Fachmann merkt man sofort, wenn man das Glück hat noch einen irgend wo zu treffen. Der versteht nicht nur mehr von der Sache, sondern der hat auch ein Verhältnis dazu. Dessen Ehrgeiz erwacht unter Umständen, wenn sich eine Sache als kompliziert erweist, während das Callcenter da entweder aufgibt, oder an einen Fachmann weiter leitet.
Das Sterben der Fachgeschäfte und Verschwinden der Handwerker zu Gunsten anonymer Ketten  und standardisierter Produkte hat nicht nur manches Schwätzchen an der Ladentheke verhindert, sondern dabei eben auch die Weitergabe von wertvollem Wissen über die jeweiligen Produkte. Ohne diese Konkurrenz der Sachkundigen lassen sich Ramsch und Billigprodukte natürlich leichter verkaufen. Und wenn der sich beschwert, dass die Schuhe nach drei Wochen hinüber sind, dann bekommt er oder sie zur Antwort: "Das sind Büroschuhe, die hätten sie nicht so strapazieren dürfen!" Warum sie dann wie Laufschuhe aussehen, ja wie Halbschuhe zum Wandern, wird einem allerdings nicht erklärt. Mit den Fachgeschäften verschwanden in vielen Fällen auch die Fachverkäufer, die einen beraten konnten, weil sie etwas von der Sache und von den Herstellern verstanden. Auch in vielen Läden ist heute Selbstbedienung üblich.
Wenn man Stellenanzeigen liest, dann wundert man sich nicht, wenn manche Firmen über Fachkräftemangel klagen. Da wird eine "Eierlegende Wollmilchsau" gefordert, die jederzeit und überall einsetzbar ist, aber möglichst keine Ansprüche stellt. Könnte es sein, dass man mehr fordert, als realistisch zu erwarten ist um so den Bewerber, der sich trotzdem meldet, gleich mal in eine schlechte Verhandlungsposition zu bringen und dadurch Geld zu sparen? Menschliche Qualitäten werden übrigens in Stellenanzeigen auffallend selten gefordert.
Für eine 3-wöchigen Aushilfe in einem Kindergarten soll der weibliche studentische Bewerber ein ausführliches Polizeiliches Führungszeugnis, sowie diverse medizinische Impfungen mitbringen. Hintergrund ist der Versuch sich abzusichern, damit im Falle eines Falles dem zuständigen Amt niemand einen Vorwurf machen kann, das es die Bewerberin nicht sorgfältig genug ausgewählt hat. Anstatt froh zu sein, dass man eine qualifizierte Aushilfe bekommt, baut man Hürden auf, die dem Menschen signalisieren: "Hier kommst Du nur herein, wenn Du Dich anpasst und unterwirfst. Als Mensch bist Du nicht erwünscht, nur als Arbeitskraft!"
Diese paar Beispiele zeigen, dass in unserer Gesellschaft der Mensch oft als störendes Sandkorn im Getriebe oft gar nicht mehr erwünscht ist, oder aber von möglichst anonymen Mächten an der Verwirklichung seiner Interessen gehindert wird. Die Neubauten schüchtern die Menschen mit ihrer Größe ein. Der Gemeinderat wird von Investoren über den Tisch gezogen, der Kunde soll selbst dienen, aber trotzdem dafür Geld bezahlen, die Stellenbewerber werden durch fragwürdige Forderungen abgeschreckt und jungen Menschen erscheint es, als ob man sie und ihre Tatkraft gar nicht wolle. Wundert sich da noch jemand, wenn psychische Erkrankungen rasant zunehmen?
Man muss sich ins Bewusstsein rufen, dass all das angeblich nur dazu geschieht, um die Art "homo sapiens" zu erhalten (nebenbei: es ist immer verdächtig, wenn sich jemand selbst als weise "sapiens" bezeichnet). Wenn das der Fall wäre, dann müssten all diese Handlungen doch nach den Bedürfnissen des Menschen ausgerichtet werden. Dann müsste die Politik verhindern, dass eine Milliarde Menschen unterernährt sind. Dann müssten Firmen Produkte herstellen, die den Menschen lange Jahre gute Dienste leisten und die man reparieren kann, um die Umwelt zu schonen, Müll zu vermeiden und ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis zu bieten. Dann müssten die Gebäude in den Orten eine Augenweide und zweckmäßig sein sowie zum Eintreten einladen. Dann müsste die Arbeit im großen Ganzen Freude machen und die Zusammenarbeit mit den Kollegen bereichern. Deshalb müsste die Personalauswahl auch danach fragen, ob jemand gut in die Gruppe passt und Kenntnisse mit bringt, die die anderen ergänzen. Selbstverständlich müsste die Arbeit auf so viele Schultern verteilt werden, dass niemand darunter zusammen bricht, oder krank wird.
Wenn wir also eigentlich schon wissen, was dem Menschen gut täte, warum tun wir es dann nicht? Warum erkennen wir statt dessen Rating-Agenturen, Banken oder Politiker als Autoritäten an, obwohl doch ein Blick genügen würde um festzustellen, dass sie auch nur mit Wasser kochen? Warum traut sich niemand zu sagen, dass der Kaiser nackt ist?
Könnte es sein, dass Viele schon gar nicht mehr wissen, geschweige denn spüren, was sie wirklich brauchen und wollen? Ist es vielleicht bequemer die Augen fest zu zumachen und alle Warnzeichen zu ignorieren, weil man so angespannt ist, dass man jede weitere Veränderung fürchtet? Aber genau dieses "Weiter so!" führt doch immer tiefer in die Krise, wenn nicht sogar in die Katastrophe. Genau dieses "Weiter so!" erlaubt es Politikern, Banken und Rating-Agenturen diese Welt zu ruinieren.
Dass diese ebenfalls Angst haben, zeigt der Trend in der Wirtschaft zu immer größeren Unternehmensstrukturen. Das führt zwar einerseits zu mehr Macht, führt aber andererseits zu einem unproduktiven bürokratischen Wasserkopf und vernichtet, wenn etwas schief geht, gleich Tausende von Arbeitsplätzen und erzeugt damit menschliche Not. Dabei weiß man doch von der Natur, dass Größe teuer ist und die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Es wird höchste Zeit zu fragen, welche Menschen dienen den Menschen und welche Strukturen tun dem Menschen gut. Die jetzigen Strukturen und ein Teil der in ihnen an führender Stelle Tätigen sind das mit Sicherheit nicht.
 
Das Bild zeigt den Abriss des erwähnten Stadtviertels. Blick von der Marienstraße zur Tübinger Straße.
Carl-Josef Kutzbach
Samstag, 18. Februar 2012