Dunkle Wolken, oder blauer Himmel?
 
Deutschland nach der Wahl
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 22. September 2013
 
Die Mehrzahl der 62 Millionen Wahlberechtigten hat gewählt. Soweit so gut. Aber was haben sie gewählt? Die alten großen Volksparteien der Mitte und die Linke. Das kann man so interpretieren: "Mutti (Angela Merkel) soll weitermachen, aber ein bisschen sozialer als bisher." Klingt vernünftig, wenn man davon ausgeht, dass man in einer Krise keinen Wechsel möchte (man soll die Pferde nicht in der Furt wechseln). Dass sich viele Bürger um die Mitte scharen, kann man aber ebenfalls als Krisenzeichen deuten. Auch die hohe Wahlbeteiligung könnte ein Anzeichen für Krisengefühle sein.
Man kann das Ergebnis aber auch ganz anders betrachten: Es gibt annähernd ein Patt, oder eine Spaltung zwischen Konservativen und fortschrittlicheren Kräften, zwischen Besitzstandswahrern und denen, die sich von der bisherigen Politik im Stich gelassen fühlen, oder einen Aufbruch und Veränderungen für nötig halten. Aber: Der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit passt ja in gewisser Weise auch zum Wunsch nach einer Mutti, die "es schon schaukeln wird" und einen selbst aus der Verantwortung entlässt sich sozial, ja vielleicht auch nur politisch zu engagieren. Man wünscht sich Geborgenheit und sozialen Frieden, weil man eine schwer zu benennende Angst hat, möchte aber am Liebsten nicht all zu viel dafür tun müssen, weil man im Alltag auch so schon an die eigenen Grenzen kommt. Die "Kostenlos-Kultur" des Internets lässt grüßen.
Auch das überraschend gute Abschneiden der AfD zeigt, dass eine gewisse Unzufriedenheit da ist, die nicht so recht weiß, wohin und als Symbol für die bei vielen unklaren Vorstellungen, was sich denn ändern müsste, den Euro als Sündenbock erkoren hat. Ob man die AfD deshalb mit früheren rechten Bestrebungen (Republikaner) gleichsetzen darf, ist fraglich. Und in der Tat hat die Politik versäumt einen Mechanismus beim Euro einzubauen, der die Aufgabe übernimmt, die früher von Wechselkursschwankungen oder Abwertungen und Aufwertungen gelöst wurde.
Dass die Hoteliers-Partei (die FDP hatte sich für spendable Hoteliers steuerlich erkenntlich gezeigt) nicht mehr im Bundestag ist, wäre kein Jammer, wenn nicht damit auch der liberale Gedanke aus dem Parlament verschwinden würde, der ja durchaus seine Berechtigung hat. Nur diese Partei nannte sich liberal, konnte aber häufig das Versprochene nicht liefern.
Dass der Schutz der Umwelt wenige Tage vor dem nächsten Weltklimabericht nicht mehr Wähler grün abstimmen ließ, zeigt : Erstens ist vielen das Hemd näher, als die ("Hose") Umwelt, mit der man die Grünen immer noch vor allem identifiziert. Zweitens fehlt es (auch) den Grünen an kompetentem Personal, so dass sie alle Politikfelder beackern könnten, was zwangsläufig für kleinere Parteien immer schwerer ist, als für große. Und drittens sind die Leistungen der Grünen auch dort, wo sie regieren, nicht so sehr ins Bewusstsein der Bürger gedrungen, dass sie dafür Wählerstimmen erhielten. Dass sie selbst in Baden-Württemberg um 10 % liegen, zeigt aber auch, dass sie teilweise von ihren Anhängern an völlig unrealistischen Wunschvorstellungen gemessen werden (z.B. Stuttgart 21 ruck zuck zu beenden). Hier zeigt sich, dass auch bei den Bürgern ein bisschen mehr Gemeinschaftskunde und Politik-Unterricht nicht verschwendet wäre. Die Medien könnten sich hier verdient machen, wenn sie nebenbei solides Basiswissen vermittelten, statt irgend welche Emotionen zu wecken, oder zu fördern, wie die Boulevardblätter.  
Schaut man sich an, was die vorige schwarz-gelbe Regierung geleistet hat, dann ist das vor allem ein Zickzackkurs angefangen beim abgeblasenen Wiedereinstieg in die Atomenergie bis hin zu den vielen erst abgelehnten und dann doch eingegangenen finanziellen Verpflichtungen und einer Familienpolitik, der Fachleute keine guten Noten geben. Angela Merkel soll ja selbst gesagt haben, dass sie "auf Sicht fährt". Das ist ehrlich und in der Straßenverkehrsordnung auch so vorgeschrieben. Aber das bedeutet auch, dass sie "keinen Plan" hat, wie Jugendliche heute sagen, wenn sie nicht wissen, was sie wollen. Man kann es auch härter formulieren: Angela Merkel ist sich des geringen Gestaltungsspielraumes bewusst, denn ihr internationale Konzerne und Banken, Bündnisse, befreundete Staaten und deren Geheimdienste lassen. Aber dann sollte sie auch ehrlich sagen, dass es mit Deutschlands Souveränität und Gestaltungsspielraum nicht weit her ist.
Nur, wer wäre dann noch zur Wahl gegangen? Brauchen wir über 600 Abgeordnete, um unsere Ohnmacht zu verwalten? Wenn schon die CDU hinter "Mutti" fast verschwindet (und die CSU hinter Seehofer), ja brauchen wir die Parteien dann noch? Und bei den anderen Parteien sind ja bemerkenswerte Köpfe ebenfalls Mangelware. Die SPD hat sich mit Ach und Krach auf Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat geeinigt, aber der hat sich durch manche unbedachte Äußerung immer wieder selbst demontiert.
Die Wahl war schwierig, weil sowohl das Personal als auch die Parteien wenig mit guten Ideen und hellen Köpfen für sich warben. Vielen schien es ziemlich einerlei, wen man wählt, weil auch schon relativ früh klar war, dass mit großer Wahrscheinlichkeit eine Große Koalition zustande kommen könnte, da fast niemand Rot-Grün, oder gar Schwarz-Grün für realistisch hielt. Da fragt man sich, wie der Chef einer Umfragefirma behaupten konnte, dass Umfragen keine Wirkung hätten. Zumindest in der Ausbildung hätte er mal was von "Self-full-filling Prophesy" gehört haben müssen, also von Vorhersagen, die sich selbst erfüllen. Es war längst klar, dass wer Rot-Grün an der Regierung wollte, eigentlich nur zum Machterhalt der CDU beitrug, weil einer von beiden wohl den Mehrheitsbeschaffen machen musste, sobald die FDP raus flog und Rot-Grün keine eigene Mehrheit erreichen konnte, was alle Prognosen übereinstimmend verkündeten.
So, wie geht es nun weiter?
Es sieht jetzt so aus, als ob die CDU die absolute Mehrheit der Parlamentssitze knapp verfehlt und deshalb einen Mehrheitsbeschaffer braucht. Bei der panischen Angst einiger Schwarzer vor den Grünen und erst recht vor der Linken, wird das wohl die SPD sein. Man kann nur hoffen, dass beide zusammen nicht genügend Sitze im Parlament bekommen, um Verfassungsänderungen mit Zwei-Drittel-Mehrheit durchdrücken zu können, zumal die Opposition aus Grünen und Linken auf etwa ein Viertel der Stimmen kommt, wie die wahrscheinliche zukünftige Regierungskoalition. Zu viel Macht kann eine Versuchung darstellen es sich leicht zu machen, indem man die Opposition mit der Stimmenmehrheit ausschaltet. Zur Erinnerung: Das Parlament ist eigentlich als ein Ort gedacht, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft und Ansichten um die beste Lösung für bestehende Probleme im Gespräch (parlare) ringen. Von Parteien und Koalitionszwang war da nicht die Rede.
Und was könnte eine Große Koalition leisten?
Rein rechnerisch könnte sie viel bewegen, weil sie die nötigen Mehrheiten leicht erreichen kann. Der Bundesrat (die Vertretung der Länder) würde dann vielleicht zur eigentlichen Opposition, oder wahrscheinlicher zum Abnicker, weil in fast allen Bundesländern Rote oder Schwarze die Regierung stellen, oder Koalitionspartner sind. Das bedeutet, eine Große Koalition könnte es sich auch bequem machen und wie in der vergangenen Legislaturperiode Vieles einfach nicht erledigen (z.B. die Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung). Es könnte also angesichts der Ohnmacht gegenüber weltweit tätigen Konzernen und Banken sein, dass Mutti es sich zuhause gemütlich macht, ab und zu ein paar Steuergelder spendiert, im Zweifelsfall das Internet für eine neue noch unbekannte Welt erklärt, und die SPD darauf acht gibt, dass immer auch ein bisschen Soziales mit dabei ist.
Wichtige Aufgaben, wie der Klimawandel, die Kontrolle der Geheimdienste, der Schutz der Bürger vor Ausspähung, die Energiewende und eine Fortentwicklung des "Erneuerbare Energien Gesetzes" (das selbst die Chinesen von uns übernommen haben), der Kampf gegen Korruption und Verschwendung von Steuergeldern, die Agrarwende hin zu einer umweltfreundlicheren Kreislauf-Landwirtschaft, die Förderung einer Gesellschaft, in der es nicht immer mehr Arme gibt und die Reichen immer reicher werden, gerechtere Bildungschancen für alle Kinder, eine nachhaltige Sanierung des Gesundheits-Systems, ein Grundeinkommen, dass die Würde des Menschen wahrt, den demographischen Wandel verträglich gestalten, die Verringerung der Exportabhängigkeit durch mehr Binnennachfrage (dazu muss man die Armut bekämpfen), die Sanierung der Deutschen Bahn (16 Mrd. Schulden!) und des Schienennetzes, der Kanäle und der unbedingt notwendigen Straßen, eine Beschränkung des Verkehrs auf das Notwendige, indem man unnötige Fahrten verteuert und regionales Wirtschaften fördert...  Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Es gibt also genug zu tun.
Es steht jedoch zu befürchten, dass die Spitzenpolitiker gar nicht so Spitze sind, wie das der Wähler bei der Wahl erhofft ,und sich vor allen bei den unangenehmen Aufgaben drücken werden, wodurch die Unsicherheit beim Bürger weiter wächst, der ahnt, wie viel Arbeit eigentlich geleistet werden müsste.  Das kann dann bei der nächsten Wahl dazu führen, dass Extremisten Zulauf bekommen, oder aber man verzweifelt am "Weiter so" festhält, weil einem längst der Glaube an verantwortungsbewusste, kompetente, langfristig denkenden Politiker abhanden kam und man deshalb vor jeder Veränderung zurückschreckt. Aber vielleicht war das ja auch schon diesmal der Grund die beiden Parteien zu wählen, die sich seit Jahren um die Mitte streiten?
 
Das Bild zeigt ein vergessenes und zerstörtes FDP-Plakat nach der Wahl im Jahr 2005.