Ulmer Denkanstöße:
Leben um zu arbeiten – arbeiten um zu leben?
„Arbeit“ ist in der Physik die Kraft, die über eine gewisse Zeit auf einen Gegenstand wirkt und ihn dadurch bewegt. Der Fuß der das Pedal des Fahrrads bewegt, leistet eine Arbeit. Was der Mensch als Arbeit betrachtet, hat sich dagegen im Laufe der Geschichte gewandelt, wie Prof. Christoph Hubig bei den 5. Ulmer Denkanstößen darstellte. Bis ins Altertum war Arbeit vor allem die Mühe, die nötig war, um sich Nahrung zu beschaffen. Im Mittelalter wurde Arbeit als Werk gedeutet, das für das Seelenheil wichtig sei. Der Philosoph Hegel schließlich sah in Arbeit ein Mittel um die Bedürfnisse einer Gesellschaft zu befriedigen. Heute ist sie für einige Menschen der Sinn des Lebens. Sie leben für die Arbeit. Jeder Misserfolg wird dann zur existenziellen Krise. Wer dem immer schnelleren Tempo nicht folgen kann, gilt als Versager, ist von Selbstzweifeln geplagt oder wird krank.
Dass heute der Begriff „Arbeit“ Schwierigkeiten bereitet, führt Hubig, der an der Technischen Universität Darmstadt Philosophie der wissenschaftlich-technischen Kultur lehrt, auf mangelnde Genauigkeit beim Denken zurück:
„Probleme mit Begriffen bekommt man in der Regel, wenn man ihre Bedeutung unzulässig einschränkt. Das geschieht, was die Arbeit angeht, heute zutage in zweierlei Weise: Zum einen wird verschiedentlich Arbeit auf Produktionsarbeit eingeschränkt. Und wir haben nur noch 18% der Arbeitenden in der Produktion. Dabei wird übersehen, das Wissensdienstleistungen, soziale Dienstleistungen natürlich auch Arbeit sind.
Die zweite Einschränkung ist die, dass Arbeit oftmals mit Lohnarbeit gleich gesetzt wird und dann die Frage entsteht, wie sollen wir diesen Bereich erfassen, der explizit nicht entlohnt wird aus – meines Erachtens – nicht vertretbaren Gründen, zum Beispiel: Pflegearbeit, Familienarbeit, Bildungsarbeit als Nachhilfe und Unterstützung.“
Hegel überlegte sich, dass jede Gesellschaft bestimmte Bedürfnisse habe, die für sie notwendig seien. Diese Bedürfnisse ließen sich durch die Arbeit aller Mitglieder der Gesellschaft am Besten befriedigen. Dazu müsse aber die Arbeit so gestaltet sein, dass der Einzelne beim Arbeiten lerne seine persönlichen Fähigkeiten immer besser auszuschöpfen.
Für Hegel ist die Arbeit ein notwendiger Teil des Lebens, der aber nicht nur Mühe bedeutet, sondern auch Entfaltung er eigenen Fähigkeiten und Freude an gelungenen Werken. Die Frage "Leben um zu arbeiten – arbeiten um zu leben?" ist also Unsinn. Weil man lebt, hat man Bedürfnisse, die man durch Arbeit befriedigt, wodurch aber zugleich das eigene Leben lebenswerter erscheint, weil man seine Fähigkeiten ausreizt und dabei erfreuliche Erfolge erzielt, die obendrein dem Allgemeinwohl dienen. Arbeit kann, ja sollte Freude bereiten!
Bei Hegel hat also die Arbeit zwei Aufgaben, die gekoppelt sind:
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1.Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft.
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2.Entfaltung der Fähigkeiten des Einzelnen zum Nutzen aller.
Das geschieht heute nur teilweise, wenn etwa Schule und Hochschule kostenlos sind, oder Stipendien für Studierende vergeben werden. Andererseits muss man für den Kindergarten bezahlen und wer sich selbst weiter bildet, muss das meist auch selbst bezahlen. Hier ist noch viel zu tun, bis nur noch die persönlichen Fähigkeiten und nicht mehr die Herkunft darüber entscheiden, wie viel einer lernen kann und darf und welche Stellung er in der Gesellschaft auf Grund seiner Fähigkeiten einnimmt.
Zur Zeit - das belegt ja auch die Studie der OECD - entscheiden Geburt, Beziehungen und das Geld der Eltern darüber, zu was es einer bringt. Das Ergebnis ist eine beachtliche Schicht Mittelmaß, das manche gute Idee, manchen guten Ansatz verhindert, weil es ihn nicht versteht und verwundert ist, wenn sein Verhalten nicht gut ankommt (Ex-Bundespräsident).
Aus der Sicht Hegels sind Jobs, also Beschäftigungen, bei denen man nicht reift, für die Gesellschaft wenig nützlich. Allerdings weist Christoph Bartmann, Leiter des New Yorker Goethe-Institutes in seinem Buch "Leben im Büro" nach, dass die Verwaltung mit ihren sehr reglementierten Arbeitsabläufen für manchen Schriftsteller Quelle des Lebensunterhaltes war, etwa für Kafka eine produktive Nische bot.
Dagegen sind Billigjobs, bei denen die Arbeitenden nicht genügend verdienen, um daraus später eine ausreichende Rente zu erhalten, eine Form von Betrug an der Gesellschaft. Es wird den Arbeitenden eingeredet, sie seien nicht mehr wert und den Nutzern dieser Billiglöhne wird vorgegaukelt, dass die erbrachte Leistung so billig zu haben sei. In Wirklichkeit wird die Gesellschaft diese Bemitleidenswerten spätestens dann bezahlen müssen, wenn sie in Rente gehen und diese Rente nicht ausreicht.
Billigjobs sind also doppelte Ausbeutung, sowohl der Arbeitenden, als auch der Gesellschaft zugunsten einiger weniger Geschäftemacher, wie man am Beispiel der Familie Schlecker sehen kann, die jetzt angeblich von nur 70 000 Euro leben muss, während über Zehntausend die Kündigung erhalten und dann zunächst Geld aus der Arbeitslosenversicherung bekommen.
Männer und Frauen
Hegels Vorstellung von Arbeit als Notwendigkeit um die Bedürfnisse zu befriedigen, bedeutet logischer Weise auch, dass die Fähigkeiten von Frauen und Männern gleichermaßen zu nutzen sind. Gerade die Führungsetagen tun sich da schwer und versagen damit als Vorbilder. Dr. Anna Gamma, Psychologin und Geschäftsleiterin im Lassalle-Institut im schweizerischen Bad Schönbrunn weist darauf hin, dass Frauen andere Fähigkeiten als Männer haben:
„Frauen ticken einfach anders, wie Männer, sie denken anders, sie gestalten anders, sie sind anders bezogen zum Mitmenschen und ich rede nicht nur von Mann und Frau, sondern von männlich und weiblich, weil ich einfach auch Psychologin bin und da differenziere zwischen diesen beiden Qualitäten. Die verändern sich ja auch im Laufe der Evolution. Und dann sag ich natürlich, die weiblichen Werte sind mehr verkörpert in der Frau, als im Mann. Aber es gibt – wenn ich so in die Führungsetagen gucke – gibt es ganz wenig Frauen, die ihre Weiblichkeit – ich sag dann auch die „wilde Schönheit der Frau“ auch bewahrt haben, in der Auseinandersetzung mit den Männern.“
Und das ist ein Jammer, denn so dominieren in vielen Chefetagen oder in Universitäten männliche Strukturen. Gäbe es einen echten Wettbewerb und echte Gleichberechtigung, dann dürften sich stets die Strukturen durchsetzen, die für die jeweilige Aufgabe am geeignetsten sind.
Die Arbeitsteilung von Mann und Frau war ja über viele Jahrtausende berechtigt und sinnvoll, weil sie Notwendigkeiten folgte und auch die unterschiedlichen Fähigkeiten kultivierte. Aber es könnte sein, dass die Zeit reif ist für neue Formen der Arbeitsteilung. Anna Gamma plädiert für Zusammenarbeit, statt Geschlechterkampf:
„Die Menschheit entwickelt sich so weit, dass wir Beide, auch den Mann, in der Küche und bei den Kindern brauchen, und genauso die Frau in der Außenwelt. Da bin ich ganz sicher, dass es so ist. Aber wenn wir mehr weibliche Qualitäten mit in die Gestaltung des öffentlichen Raumes reinnehmen, die mehr ehren und würdigen würden, dann würde unsere Gesellschaft anders aussehen. Davon bin ich überzeugt. Und wenn wir lernen nicht nur in der Rivalität stehen zu bleiben und sagen das Eine ist besser, wie das Andere, sondern dass wir nach der Ergänzung suchen, dann wird es wirklich spannend.“
Dieses Ziel ist noch weit entfernt. Das männliche „Allzeit bereit!“ dominiert die Wirtschaftswelt. Der Wahn der ständigen Erreichbarkeit, der Selbstverbesserung und Selbstvermarktung macht immer mehr Menschen krank. Ihr Fehlen am Arbeitsplatz erzeugt, laut Gesundheitsministerium, Schäden von 8 - 10 Milliarden Euro jährlich.
Wieso macht Stress krank?
Was macht eigentlich krank? Was erzeugt den Stress?
Ursprünglich diente Stress unseren Vorfahren dazu bei Gefahr sofort wegzulaufen, oder zu kämpfen. Der Körper wird dabei mit Stoffen versorgt, die ihn zur Höchstleistung befähigen und die normaler Weise beim Laufen oder beim Kämpfen abgebaut werden. Dieser Mechanismus funktioniert noch immer, aber an vielen Arbeitsplätzen kann man weder weglaufen, noch körperlich kämpfen. Der Körper ist dann voller Stoffe, die er gar nicht mehr braucht und die nicht abgebaut werden. Sie müssen aber wieder abgebaut werden, weil sie sonst der Gesundheit schaden. Vereinfacht ausgedrückt kommt der Haushalt des Körpers durcheinander, weil er ständig in Alarmstimmung ist und nicht mehr zur Ruhe kommt.
Prof. Anja Gerlmaier, Arbeitspsychologin der Universität Duisburg-Essen vom Institut Arbeit und Qualifikation untersucht vor allem Arbeitsplätze in der Informationstechnik und Wissensverarbeitung. Sie fand bei einem Mitarbeiter am Abend Adrenalinwerte, die so hoch waren, dass er 40 Kilometer hätte laufen müssen, um wieder normale Werte zu bekommen.
„Das grundlegende Problem ist aus meiner Sicht, dass der überwiegende Teil von IT-Spezialisten in Projekten tätig ist. Sie haben festgesetzte Budgets, sie haben festgesetzte Abgabetermine für Arbeitspakete oder für Projektergebnisse; haben aber auf der anderen Seite die Situation, dass sich Projekte innerhalb der Projektlaufzeit auch mehrmals umwandeln können, oder das halt bestimmte Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Und dann ist relativ schnell angesagt am Wochenende zu arbeiten. Es ist üblich Überstunden zu machen, also mehr zu arbeiten, als vertraglich vorgesehen.“
Die Arbeit erfordert eine hohe Konzentration, aber ständige Unterbrechungen, der häufige Wechsel zwischen verschiedenen Projekten und der Zeitdruck verschärfen das Problem:
„Und alles das in Summe führt dazu, dass bei den Leuten, ja unter Umständen auch relativ schnell der Akku leer ist, also dass wir sozusagen von chronischen Erschöpfungssymptomen sprechen.“
Auch andere Krankheiten, wie Gastritis, Herz-Kreislauf-Probleme, Tinitus und Rückenschmerzen können von Stress am Arbeitsplatz hervor gerufen werden.
Dass gute Arbeit Zeit braucht, ist eigentlich seit über 2000 Jahren bekannt, wie man im Alten Testament im Prediger drei lesen kann. Dass der Mensch einen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung braucht, ist auch keine Neuigkeit. Fast jeder Sportler kennt den Krampf als Folge von übermässiger und zu lange dauernder Anspannung. Ebenso bekannt könnte eigentlich sein, dass Menschen die Geborgenheit in einer Gruppe brauchen, damit sie von dort aus sich auf neues Gelände vorwagen können. Auch hier wieder die Abwechslung zwischen Geborgenheit und Abenteuer.
Aber gerade im Sozialen versagen moderne Firmenstrukturen oft kläglich. Anja Gerlmaier:
„Das fängt damit an, dass man in den Projektteams unter Umständen ständig mit neuen Leuten arbeitet, dass also auch die Kollegen ständig wechseln, dass es unterschiedliche Projektleiter gibt, die auch nicht am gleichen Standort unter Umständen arbeiten, dass auch die Projektleiter innerhalb eines Projektes ständig wechseln, also man hat dann grade mal zwei Monate einen Projektleiter der vielleicht an einem Standort arbeitet der 400 km entfernt ist, hat sich dann grade mal mit ihm auseinander gesetzt, dann kommt unter Umständen schon der Nächste.“
Überraschender Weise leiden gerade Frauen mit ihren sozialen Fähigkeiten in IT-Berufen, weil sie noch eher als Männer versuchen Unmögliches möglich zu machen, aber auch, weil sie häufiger bei Kontakten mit Kunden eingesetzt werden, wobei dort Konflikte emotional viel belastender sein können, als am Schreibtisch bei Entwicklungsarbeiten.
Spricht man mit Mitarbeitern, dann hört man erstaunlich oft, dass die Aufgabenstellung nicht klar ist, oder sogar unlösbar:
„Das erleben wir bei IT-Projekten ganz häufig. Und das Problem an der ganzen Geschichte ist, dass da sozusagen organisatorische Widrigkeiten, oder auch widersprüchliche Ziele von den Beschäftigen aber auch 'ne ganze lange Zeit zu lösen versucht werden. Also dass Sachen, wo man objektiv sagen muss: "Das kannst Du nicht schaffen. Das hat mit Deinen Kompetenzen nichts zu tun, sondern das kannst Du einfach nicht lösen!", dass IT-Leute ganz häufig versuchen das zu lösen.“
Das erzeugt natürlich Stress, weil in vielen Firmen gilt: "Kommen Sie nicht mit Problemen, kommen Sie mit Lösungen!" Das bedeutet im Klartext: "Probleme haben vielleicht Sie, aber nicht die Firma! Scheitern ist Ihr individuelles Versagen, kein Fehler der Führungsetage!" Da schwingt die Drohung mit, dass Versager aussortiert werden. Dass eine Firma, die vor Problemen die Augen verschließt, mit großer Wahrscheinlichkeit in erhebliche Probleme gerät, weil sie sozusagen ihr Frühwarnsystem abgeschaltet hat, wird selten bedacht.
Man mag den Chef von Trigema, der Textilfirma aus Burladingen auf der Schwäbischen Alb einen Patriarchen nennen, aber der Unternehmer Wolfgang Grupp bekam Applaus, als er derartigen Führungsstil als verantwortungslos bezeichnete. Wenn bei ihm etwas schief liefe, dann sei er als Chef schuld daran und im schlimmsten Fall hafte er mit allem, was er habe. Aber Boni kassieren, ohne zu haften, das passe nicht zusammen. Dazu gehört aber eben auch, dass man sein Unternehmen kennt und nicht alle paar Jahre oder Monate das Unternehmen wechselt, wie das heute oft üblich ist. So erfährt man nämlich niemals, was die eigenen Massnahmen für Folgen haben und lernt auch nicht aus eigenen Fehlern.
Warum gerade in der IT-Branche so viel schief läuft, lässt sich vielleicht so erklären: Es waren vor allem junge Männer, die dort eine Chance witterten schnell reich zu werden, ohne sich den Mühen eines klassischen Arbeitsplatzes zu unterwerfen. Und genau so wenig, wie die Garagenfirmen von Apple oder Microsoft sich um all die Erkenntnisse kümmerten, die man bereits bei Großrechnern gesammelt hatte (deshalb müssen wir uns heute alle mit diesen Fehlern herumschlagen), so kümmerten sich diese Neulinge um Arbeitsrecht oder das Wissen darüber, wie man langfristig gute Arbeit leistet, oder, was im Gesetz steht. Anja Gerlmaier:
„Die gesetzlichen Möglichkeiten sind da, werden aber in den Betrieben erstaunlicher Weise relativ selten genutzt. Und ganz erstaunlich für mich halt auch, dass Betriebsräte das häufig gar nicht wissen.“
Wenn es Betriebsräte überhaupt gibt.
Seit den Achtziger Jahren gebietet die Bildschirmarbeits-Verordnung 5-10 Minuten Pause je Stunde. Das wird in der Regel genau so vergessen, wie der Tatbestand, dass krankmachende Arbeitsbedingungen mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden können.
Wie bei den unlösbaren Aufgaben, muckt auch hier fast nie jemand auf, denn man will nicht als Schwächling gelten oder den nächsten Projektauftrag gefährden:
„Solidarität gibt es unter vielen IT-Spezialisten, zumindest in den Projektteams nicht; hab ich zumindest sehr selten erlebt. Das heißt, man versucht wirklich lange auch desaströse Zustände zu ertragen, anstatt sich zusammen zu setzen und zu sagen: "So bis hier und nicht weiter!" Also Formen von Solidarität sind bei dieser Sorte von Tätigkeit offensichtlich nicht angesagt.“
Auch das Vertrauen in die Vorgesetzten ist gering, bietet also keine Sicherheit. Selbst wer erkennt, dass eine Aufgabe unlösbar ist, gibt sie selten an den Vorgesetzten zurück:
„Das trauen sich aber wiederum Viele nicht, weil sie dann halt das Gefühl haben zu versagen, wobei das Versagen eigentlich in der Organisation liegt, denn eine Aufgabe von Führung ist es - aus meiner Sicht - klare Ziele zu geben, die ein Mitarbeiter auch lösen kann.“
Wie sollen das Führungskräfte leisten, wenn sie die Firma nicht gründlich kennen, ebenfalls unter Druck stehen und obendrein ständig damit beschäftigt sind, sich in Sitzungen glänzend darzustellen, herumzureisen und ihre Mitarbeiter zu kontrollieren. Kein Wunder, wenn die Führung in vielen Unternehmen versagt.
Dennoch rät Anja Gerlmaier:
„Wenn man in einer Überlastungssituation ist und merkt, ich komm mit meiner Arbeit nicht weiter, ganz wichtig: Signale an den Vorgesetzten geben! Man kann natürlich nicht immer darauf hoffen, oder man kann nicht garantieren, dass die betreffende Person dann auch einlenkt und in dieser Situation hilft. Aber aus meiner Sicht ist es wichtig ein Signal zu setzen, also ein Signal in Richtung Führung und auch ein Signal in Richtung Kollegen.“
Damit ist auch die Ausrede von Vorgesetzten vom Tisch, sie hätten das ja gar nicht gewusst. - Ob die Kollegen mitziehen, ist fraglich. Manche werden darauf spekulieren, dass der Belastete damit beim nächsten Projekt als Konkurrent schlechtere Karten haben werde, was ihnen gerade recht ist.
Was in jedem Fall bleibt, ist der Selbstschutz:
„Das Andere, was man machen kann, ist zu versuchen, wie kann ich mir kleine Erholungsmöglichkeiten verschaffen, also wie kann ich - trotz ständigem Stress - kleine Pausen machen? Also wichtig - aus unserer Sicht - ist es zum Beispiel so im Schnitt alle anderthalb Stunden 5-10 Minuten Pause zu machen. Das heißt, den Arbeitsplatz verlassen unter Umständen, oder sich einen Apfel holen und schälen und essen, oder sich ne Tasse Tee holen, oder beim Kollegen im Büro vorbeizugehen und ganz wichtig diese Pausen auch zu machen, wenn man Stress hat.“
Das ist leichter gesagt, als getan, denn der durch Stress erhöhte Adrenalinspiegel und der Zeitdruck scheinen Pausen zu verbieten. Aber wer wie wild ranklotzt und viele Stunden runterreißt, leistet oft weniger.
„Wichtig ist es genau in solchen Situationen halt nicht zehn Stunden zu arbeiten, denn, wenn ich stark konzentriert arbeiten muss, unter Zeitdruck arbeiten muss, bin ich schneller erschöpft. Und wenn ich dann die neunte und zehnte Stunde arbeite, ist in der Regel nichts Produktives mehr, was dabei rum kommt, also da auch wirklich dann auf Arbeitszeiten zu achten.“
Besser wäre natürlich, die ganze Firma zieht an einem Strang und achtet auf Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit schützen. Anja Gerlmaier:
„Ich hab's in einem Unternehmen auch erlebt, da haben wir sozusagen das Pausenmanagement geändert, dass Kollegen dann denjenigen, die immer gern länger gearbeitet haben, weil sie keinen Punkt gefunden haben, um aufzuhören, dass die dann Freitagnachmittags die Leute abgeholt haben, gesagt haben: "So du kommst jetzt mit nach Hause." Das wäre quasi dann ne positive Pausen- oder auch Arbeitszeit-Kultur.“
Das zahlt sich dann auch für Mitarbeiter, die Firma und die Gesellschaft aus:
„Die Leute haben deswegen qualitativ nicht schlechter gearbeitet, sondern sie haben einfach in den acht Stunden relativ konzentriert gearbeitet, hatten nach acht Stunden auch ihre Arbeit fertig und hatten dann auch kein schlechtes Gewissen nach Hause zu gehen.“
Das ist ebenfalls keine neue Erkenntnis. Bei Ford in England soll die Einführung der Drei-Tage-Woche während einer Krise (statt 5-Tage-Woche), die Produktivität nur um 6% gesenkt haben.
Zeitdruck, Überstunden, Unsicherheit des Arbeitsplatzes, befristete Verträge, unklare Arbeitsaufgaben, verschiedenen Projekte zur gleichen Zeit, ständige Unterbrechungen, wechselnde Kollegen und Chefs, ständig wechselnde Ansprechpartner, unzureichende technische Ausstattung, Mangel an Solidarität, der Kampf jeder gegen jeden, sowie die ständige Angst zu Versagen, das hohe Tempo nicht mehr mithalten zu können, sind die wichtigsten Stressquellen im Beruf. Hinzu kommt, dass man nicht mehr wie einst Kafka seine Arbeit tun kann und dann nach Hause gehen kann, um das zu tun, wozu man Lust hat, nein ständige Erreichbarkeit und das Gefühl sich mit Leib und Seele der Firma hingeben zu müssen, führt in eine ungesunde Abhängigkeit, die an Sekten erinnert.
Muße?
Wer eine 50-70-Stunden-Woche hat, kann sich nicht mehr entspannen. Man sucht im Kurzurlaub oder beim Event ein Aufladen der Batterien, aber keine Muße und tiefgreifende Erholung, die unter Umständen diesen Arbeitsstil in Frage stellen könnte. Die steigenden Erkrankungen auf Grund ungesunder Arbeitsbedingungen sind auch einem Mangel an Muße geschuldet ist, fand der Wissenschaftsredakteur und Autor des Buches „Muße“ Dr. Ulrich Schnabel. Was ist Muße eigentlich?
„Für gemeinhin denkt man immer Muße sei so abhängen und faulenzen, aber im ursprünglichen Sinn bedeutet Muße eher in Übereinstimmung zu sein, mit dem, was das Leben so für einen ausmacht und das kann durchaus auch ne Aktivität sein, also Wandern, Musizieren, Tanzen usw., das kann alles Muße sein.
Wichtig ist einfach, dass man Dinge tut, die einem Freude bringen und über die man selbst bestimmen kann, also nicht dass einem jemand anders sagt, Du sollst jetzt dies oder jenes tun, sondern, dass man selber aus sich heraus beschließt: Das mach ich, weil es mir Freude bringt.“
Jeder Mensch kennt das eigentlich, denn Kinder tun das die allermeiste Zeit und lernen dabei nebenher eine große Menge. Aber das ist nicht das Entscheidende, fand die Forschung beim Blick ins Gehirn. Wenn man Versuchspersonen im Scanner nach einem Test sagte, so jetzt könnten sie sich entspannen, der Test sei vorbei, dann wurden plötzlich andere Hirngebiete aktiv. Ulrich Schnabel:
„Dieses Areal oder dieses Netzwerk heißt das Leerlauf-Netzwerk und es wird immer dann aktiv, wenn wir nicht zielgerichtet denken. Also wenn wir nicht irgend einen bestimmten Zweck verfolgen, rational denken, sondern in dem wir mal das Gehirn so'n bisschen schweifen lassen, sich selbst überlassen, Tagträumen, Schlafen, oder was auch immer. Und dann ist sozusagen das Gehirn in einem bestimmten Aktivitätsmodus aktiv, der, wie die Hirnforschung zeigt, offenbar sehr wichtig für uns ist, weil wir da zum Einen Gelerntes verarbeiten, Erinnerungen neu strukturieren und uns im Prinzip auch erzählen, wer wir selbst auch eigentlich sind. Also wir versichern uns unserer selbst, unserer Erfahrungen, unserer Werte in diesen Zeiten, in denen wir nicht auf äußere Reize reagieren müssen, sondern, in der das Gehirn sich mal mit sich selbst beschäftigen kann.“
Menschen, die nur arbeiten und keine Muße finden, sind also nicht nur in Gefahr krank zu werden, sondern sogar sich selbst zu verlieren. Wie wichtig dieses Hirngebiet (und damit die Muße) ist, zeigt sich daran, dass es bei Alzheimer, aber auch anderen psychischen Erkrankungen gestört ist.
Moderne Arbeitsbedingungen schädigen also den Einzelnen, indem sie ihn krank machen und seines Selbstbewusstseins, seiner Persönlichkeit berauben, aber auch die Gesellschaft, nicht nur über Fehlzeiten, die Milliarden kosten und die Sozialversicherungen belasten, sondern weil diese Menschen, die nicht mehr wissen, wer sie sind und was sie wirklich wollen, als Stimmbürger die Demokratie ad absurdum führen, oder zumindest leicht verführbar sind.
Eine gute Nachricht dagegen stammt von den Kindern, die ständig so leben und arbeiten, dass sie mit sich selbst im Einklang sind, und darum ihr Tun überhaupt nicht als belastend empfinden. Dahin, so eine These der Tagung sollte sich die Gesellschaft bewegen, die alltägliche Praxis, so eine andere These, weist allerdings in die entgegen gesetzte Richtung.
Das Bild zeigt eine Großbaustelle in Stuttgart.