Unabhängigkeit?
Carl-Josef Kutzbach
Sonntag, 18. August 2013
Um die Kirchturmuhr kümmerte sich der Küster oder der Türmer und der ganze Ort wusste, was die Stunde geschlagen hat.
Um die Standuhr, Kuckucksuhr oder Wanduhr, kümmerte sich der Vater oder ein anderes Familienmitglied, und alle im Hause wussten, wie spät es ist.
Die Armbanduhr muss jeder selbst aufziehen und stellen und weiß dann überall, wie spät es ist. Andere dagegen müssen fragen: „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?”
Die moderne elektrische Uhr, wird per Funk gestellt. Sie ist also von viel mehr Menschen abhängig, die für die richtige Zeit, das richtige Funksignal und die richtige Übertragung sorgen.
Und bei der elektrischen Armbanduhr muss man ab und zu die Batterie wechseln lassen. Man ist also wiederum von viel mehr Menschen abhängig, den Reparateur, den Batteriehersteller, die Rohstofflieferanten, den Auslieferer.
Die scheinbar größere Unabhängigkeit des Einzelnen von anderen (Türmer > Familienmitglied > man selbst), ging einher mit viel größerer Abhängigkeit (Uhrenhersteller > Zeitsignalübermittler (Radio, Funksignal) > Batteriehersteller > Uhrmacher zum Batteriewechsel).
Damit wuchs auch die Gefahr, dass ein Fehler geschieht und man just dann nicht die richtige Zeit kennt, wenn es darauf ankäme. Nicht umsonst sind an nahezu allen Bahnhöfen und vielen Haltestellen Uhren angebracht, denn dort kommt es auf die Minute an.
Selbstverständlich muss, wer sich nicht mehr auf die Turmuhr verlassen will, auch mehr Aufwand treiben: Uhr kaufen, stellen, aufziehen, bzw. Batterie wechseln, abstauben, eventuell das Armband erneuern, und ggf. Reparieren oder neue Uhr kaufen.
Die scheinbare Unabhängigkeit (heute ist in ganz vielen Geräten eine Uhr mit eingebaut) erfordert also nicht nur mehr Geld für die Geräte und mehr Aufwand (Kontrolle und Stellen der Uhren), sondern hat zu einer Abhängigkeit von viel mehr Menschen geführt, die man nicht kennt und die man vielleicht nie im Leben sehen wird.
Ob sich dieser Wechsel der Abhängigkeiten gelohnt hat oder heute noch lohnt?
Das Bild zeigt das Zifferblatt der Uhr am Turm der Stuttgarter Stiftskirche.
