Gewalt - ein Überdruckventil
 
Mit „Ursprung und Formen der Gewalt“ beschäftigten sich vom 11.-14. Mai 2011 in Heidelberg Forscher beim gleichnamigen Symposium des „Zentrums für deutschsprachige Philosophie und Kultur in St. Petersburg“.
 
Prof. Boris Sokolov von der Universität in St. Petersburg skizziert Gewalt als zeitlos:
„Die Gewalt ist ein ewiges Phänomen, genau so wie Liebe, wie Empfinden, wie Sinnlichkeit und jede Generation hat ihre eigene Art und Weise damit umzugehen. Wir versuchen einfach nur zu verstehen, was die Gewalt ist, weil wir genau wissen, dass wir sie nicht ausmerzen können.“
Ob man Gewalt als gut oder schlecht erlebt, hängt davon ab, ob man sie erleidet, wie bei einem Überall, einer Katastrophe, oder ob man durch sie geschützt wird, etwa durch Polizisten die Streitende trennen, eine wütende Menge in Schach halten, oder ein tollwütiges Tier töten.
Buben und junge Männer legen die Rangordnung in ihrer Gruppe häufig durch Rangeleien und Kämpfe fest, die aber im Normalfall - genau wie bei Tieren - keine ernsthaften Verletzungen zur Folge haben. Hier dient eine gemäßigte Form von Gewalt dazu soziale Strukturen aufzubauen und zu festigen, was in vielen Fällen zum Vorteil der gesamten Gruppe wird. Diese Rangeleien üben schließlich auch ein mit Gewalt maßvoll umzugehen. Sobald der Unterlegene seine Niederlage zugibt, ist der Fall erledigt. Es sei denn er stellt die Rangfolge erneut in Frage.
Wenn heute gelegentlich solche eigentlich normalen Rangkämpfe zu schweren Verletzungen führen, oder es nicht mehr um eine "Hackordnung" geht, sondern darum den Anderen "fertig zu machen", dann ist da vermutlich etwas Neues im Spiel. Sei es, das natürliche Hemmungen nicht mehr funktionieren, sei es, dass sie etwa durch Medien und Spiele abtrainiert wurden, sei es, dass die Täter in einer Unreife verharren, die nicht altersgemäß ist.
Auch wenn Mädchen eine derartige enthemmte Gewalt zeigen, dürfte irgend etwas schief gelaufen sein. Normalerweise laufen weibliche Auseinandersetzungen anders ab (Zickenkriege). Wenn Mädchen das typische Verhalten von Jungens nachahmen, dann lässt das ein ziemlich unsicheres Rollenbild vermuten.
Gewalt wirkt auch nicht auf alle Menschen gleich. Wie stark jemand darunter leidet hängt  davon ab, ob er einer Naturkatastrophe ausgesetzt ist, oder anderen Menschen. Am Schlimmsten sind Menschen, denen man ausgeliefert ist.  Der Medizinhistoriker und Ethiker Prof. Wolfgang Uwe Eckart von der Universität Heidelberg beschreibt das so:
„Typisches Beispiel dafür sind etwa die Soldaten des ersten Weltkrieges im Stellungskrieg, die vorne in vorgeschobener Position in ihren Stellungen saßen, permanent dem Artilleriefeuer ausgesetzt waren und keine Möglichkeit hatten dem natürlichen Fluchtreflex zu folgen, oder - die andere Alternative - sich gegen bedrohliche Gewalt aktiv zu wehren, das heißt also sich gewalttätig aktiv zur Wehr zu setzen.“
Besonders schlimm scheint zu sein, wenn Kinder oder Frauen von Menschen Gewalt erfahren, zu denen sie eine enge Beziehung haben und die sie eigentlich vor Gewalt schützen sollten. Die Folgen derartiger Gewalterfahrungen sind Traumata, seelische Verletzungen, die sich aber auch körperlich zeigen können und die unbehandelt ein Leben lang zur Plage werden können:
„Sie haben ein Gefühl der inneren Aufgewühltheit. Sie können körperlich reagieren durch typische Angstreaktionen, durch Schweißausbrüche, durch Zittern, aber auch durch sensorische Ausfälle: Manche können nicht mehr Schmecken, manche können nicht mehr Riechen, nicht mehr Hören, einige sogar nicht mehr Sehen.“
So etwas kann auch nach einen Verkehrsunfall auftreten und sollte behandelt werden.
Die normalen Reaktionen auf eine Bedrohung, egal ob real oder nur so empfunden, sind Flucht oder Angriff. Deshalb kann ein Mensch in Lebenslagen, die er selbst als aussichtslos empfindet, selbst zum Gewalttäter werden. Wolfgang Uwe Eckart:
„Solche Fälle, in denen Menschen durch erlittene, nicht körperliche Gewalt, durch seelische Gewalt, selbst zu Gewalttätern werden, dafür finden wir etwa Beispiele im Phänomen des Schoolshootings, das heißt also in den so genannten Amokläufen, die eigentlich mit den klassischen Amokläufen aus der asiatischen Tradition wenig zu tun haben.“
Dass Schüler Mitschüler und Lehrer angreifen und töten gibt es in Amerika seit 1960. In Deutschland trat das erst später auf. In den meisten Fällen hatten die Täter zuvor selbst Verletzungen erlitten. Körperliche oder seelische Gewalt, Nichtbeachtung, Diskriminierung, Mobbing, Quälereien durch Mitschülern, Ausgrenzung. Wenn dieser Mensch dann keinen Freundeskreis hat, der ihm hilft damit fertig zu werden, können in der Einsamkeit Rachegefühle entstehen, die zur Katastrophe führen:
„Das Beispiel Winnenden war ein solcher Fall 2009, der Amoklauf in dem Gymnasium in Erfurt war ein solcher Fall. Es gibt in der amerikanischen Trauma-Geschichte eine ganze zahlreiche Serie von solchen Beispielen...“
... bei denen es in den meisten Fällen warnende Anzeichen gab. Eltern, Lehrer, Schulsozialarbeiter, oder Schulpsychologen hätten, mit genügend Zeit und Kraft, vielleicht auch mehr auf die stillen, in sich zurück gezogenen Schüler achten und damit helfen können. Es gibt eine Postkarte, auf der ein kluger Satz steht:
Bevor Kinder Schwierigkeiten machen
hatten sie selbst welche.
Schulhofprügeleien (also nicht normale Rangeleien), die zur Aufklärung der Vorgänge führen, können Schlimmeres verhindern, weil sie als Überdruckventil und Alarmsignal dienen. Da heute Gewalt teilweise tabuisiert wird, traut sich mancher Gehänselte aber nicht mehr seine Verletzung und Wut in Form von Gewalt zu äußern, sondern zieht sich in sich selbst zurück und brütet eher finstere Rachegedanken.
„Das heißt also, die Leute trauen sich nicht sich unmittelbar zu wehren, sie sind nicht in der Lage unmittelbar zu reagieren und befinden sich damit in der gleichen Situation, wie Soldaten im Grabenkrieg: Die können nicht flüchten, oder zurückschlagen, sondern sie müssen verharren.“
So wächst der Druck bis es zur Explosion kommt. Gewalt kann also ein Alarmsignal sein, dass in den Beziehungen der Menschen untereinander etwas nicht mehr stimmt.
Körperliche und seelische Gewalt erzeugen häufig neue Gewalt. In der Ehe trifft sie meist Frauen und Kinder. Das ist auch in Russland ein großes Problem berichtet die Psychologin und Prorektorin der Petersburger Universität Larissa Zwetkova:
„In St. Petersburg besteht seit 1992 bereits ein Zentrum zur Prävention von Gewalt gegen gegenüber Frauen und Kindern. Wir haben spezielle Programm im Rahmen des Zentrums entwickelt. In der Regel ist es der Mann, der als Gewalttäter auftritt, oder ein Verwandter.“
30 Prozent der Morde in Russland werden an Frauen und Kindern verübt. 97 Krisenzentren und 300 Seelsorge-Telefone reichen angesichts von neun Millionen, die unter Gewalttaten leiden, noch nicht aus. Aus den Telefonaten ergibt sich, dass etwa ein Drittel der anrufenden Frauen Gewalt erleiden.
Ob Frauen den Männern körperliche Gewalt vielleicht mit seelischer Gewalt heimzahlen, oder sie damit provozieren, ist bisher nicht erforscht.
Frauen scheinen andere Strategien zur Bewältigung von Kränkungen und Gewalterfahrungen zu haben, denn die Täter bei den Schul-Amokläufen waren alle männlich. Deswegen richten sich einige Programme gegen Gewalt vor allem an Männer. Bildung und Sport können helfen Wege aus der gewaltsamen Auseinandersetzung zu finden, berichtet der emeritierte Professor für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg, Volker Lenhart:
„Die Teilnehmer an solchen pädagogischen Programmen entwickeln eine friedlichere Einstellung, als diejenigen - in der gleichen Lage -  die nicht daran teilgenommen haben.“
Bildung, als Anleitung zur Konfliktlösung, aber auch als Information über Andersartige und Fremde, sowie Formen von Kunsttherapie sind hilfreich. Gut untersucht sind die Israelisch-Palästinensischen zweisprachigen „Hand-in-Hand-Schulen“, oder eine Art Olympiade im Sudan, bei der verfeindete Stämme und Völker zusammen kamen, gemeinsam unter einem Dach lebten und mit Hilfe des Sports lernten, dass man Konflikte nach Regeln austragen kann:
Dass es also bei dem im Fußball auftretenden Konflikt besser ist gegen den Ball zu treten, als gegen die Beine des Gegners; sonst gibt es nämlich Elfmeter.“  
Friedenspädagogik wirkt und Volker Lenhart hat deshalb eine Art Werkzeugkasten mit entwickelt, der Veranstaltern hilft die in ihrem Fall geeigneten Maßnahmen einzusetzen.
Gewalt richtet große Schäden an, kann aber auch retten, wenn man etwa ein Kind, das über die Straße rennen will, noch rechtzeitig zurück reißt. Dass Gewalt so viele Probleme bereitet, liegt daran, dass sie Ausdruck von etwas ganz Anderem ist, meint der Philosoph und Organisator der Konferenz, der Heidelberger Prof. Heimo Hofmeister:
„Gewalt ist immer ein Zeichen der Ohnmacht und Abbruch der Kommunikation. - Die Kunst ist es das zu Vermitteln, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, die wir unzureichend beherrschen, vielleicht auch dafür gar nicht erzogen werden.“
Die Aufstände in der arabischen Welt, aber auch in Europa und vielleicht auch bei Stuttgart 21 sind - so betrachtet - Ausdruck von Sprachlosigkeit zwischen Völkern und Herrschern.
Auch bei uns gibt es Anzeichen der Entfremdung, der Ohnmacht, die man beachten sollte, um rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu treffen:
Für mich ist Gewalt immer eine Folge von Ohnmacht, von Sinnlosigkeit, Lebensleere. Schon der in der Schule störende Schüler übt hier in gewisser Weise Gewalt aus, um seine Unsicherheit, seine Verlassenheit zu überwinden, auf sich aufmerksam zu machen. Andererseits wissen wir, dass es diese Ohnmacht auch ist, die Terroristen dazu bringt den letzen Sinn ihres Lebens eben in ihrem Tod - mit Anderen - zu suchen.“  
Jede Gesellschaft, die Mitglieder ausschließt (Armut, Arbeitslosigkeit, Billiglöhne, Verweigerung von Bildung, Chancen, Informationen und politischer Mitwirkung), gefährdet diese und zugleich sich selbst.
Dass auf dieser Deutsch-Russischen Konferenz Gewalt zum Thema gemacht wurde, kann man als Alarmzeichen, aber auch als Hoffnungsschimmer interpretieren. Auch das Alte Testament schildert an vielen Stellen Gewalt und Regelverstöße, um sie so bewusst und damit behandelbar zu machen. Es kommt eben auch bei der Schilderung von Gewalt darauf an, ob sie dazu dient die Faszination auszunutzen (Auflagesteigerung) und Gewalt zu verherrlichen, oder ob man sie nüchtern betrachtet und nach den Ursachen forscht um sie zu bändigen.
Dieser Bändigung dient auch die "Gewaltenteilung" im Staat, die in Form von Legislative, Judikative und Executive (Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzug) einem dreibeinigen Hocker gleicht, der solange nicht umkippen kann, solange alle drei Beine gleich lang sind. Solange also diese drei Teile des Rechtsstaates etwa gleich sind, besteht wenig Gefahr, dass jemand sich die Macht aneignet, oder sie missbraucht. Deshalb darf zum Beispiel das Militär nicht im Land als Ersatzpolizei eingesetzt werden, weil das dieses sorgsam austarierte Gleichgewicht gefährdet. Auch die Umwandlung des Grenzschutzes in eine Bundespolizei war unter diesem Gesichtspunkt äußerst fragwürdig. Wer hier mit Sparsamkeit argumentiert, vergisst, dass es die Demokratie nicht umsonst geben kann, sondern dass sie gepflegt werden muss und das müsste den Bürgern eigentlich etwas wert sein, wenn man es ihnen richtig erklärt.
Ebenso problematisch ist, wenn Rechtswege verkürzt werden sollen, um etwa eine schnellere Genehmigung von Bauten, Stromtrassen oder Verkehrswegen zu ermöglichen. So lockend diese Ziele auch sein mögen, man bringt damit ein sorgfältig geschaffenes Gleichgewicht ins Wanken. Und woher kommt überhaupt die Eile? Doch wohl auch daher, dass man sich nicht bei Zeiten die nötigen Gedanken gemacht hat, nicht rechtzeitig die entscheidenden Pläne fasste, den Bürgern vor- und zur Abstimmung stellte. Hier soll also das Versagen der Politik oder der Wirtschaft mit Hilfe von Eingriffen ins Recht repariert oder vertuscht werden!
Wieso müssen immer mehr Menschen ihre Arbeit so schnell erledigen, dass sie nur Pfusch abliefern können, unter dem dann alle leiden, anstatt die, die dringend Arbeit suchen, um Hilfe zu bitten und nur so schnell zu arbeiten, wie das Qualität und Gesundheit zulassen?
Beim Thema Gewalt spielen die Sprachlosigkeit und die Ohnmacht eine große Rolle. Menschen erhalten aus Zeitmangel häufig weder Zuspruch und Anerkennung, noch Unterstützung oder Ratschläge, wenn sie Fehler machen. Das führt bei immer mehr Menschen zu Depressionen. Der Depressive neigt dazu die Schuld zunächst bei sich selbst zu suchen, fordert immer mehr von sich selbst, ist sehr streng mit sich und seinen Leistungen, bis er unter der Belastung zusammen bricht (Erschöpfungsdepression). Es kann aber auch vorkommen, dass die Aggression, die er so lange gegen sich selbst gerichtet hat, plötzlich nach Außen durchbricht und er dann völlig maßlos um sich schlägt (Amok).  
Wenn eine Gesellschaft durch ständige Beschleunigung die Leistung zu steigern versucht, dabei aber die Zeit für das Schwätzchen, für den sozialen Kontakt auf der Strecke bleibt, dann fühlen sich immer mehr Menschen überfordert, ausgegrenzt, nicht anerkannt und sind dann irgend wann auch nicht mehr bereit die Regeln dieser Gesellschaft einzuhalten.
Man kann gewaltsame Proteste also nicht nur politisch als Anzeichen von Versäumnissen sehen, sondern auch als Ausdruck des Leidens von Menschen an einer Gesellschaft die das Befriedigen grundlegender Bedürfnisse (Anerkennung, Nähe und Kritik) dem schnellen Erfolg und dem schnellen Geld (Primat der Wirtschaft) einiger weniger geopfert hat.
 
Das Bild zeigt zerstörte Glasscheiben an einer U-Bahnhaltstelle.
 
 
Carl-Josef Kutzbach
Montag, 15. August 2011