Zu kurz gedacht
Die Missachtung des Kantschen Imperativs und seine Folgen
 
Was haben Betriebswirtschaft, die Werbung der Postbank (alles dreht sich um "...ich"), die Probleme bei Großprojekten und Immanuel Kant miteinander zu tun? Die drei ersteren sind Bestandteile einer Krise unserer Gesellschaft, die auf ein drohendes Systemversagen, kurz einen bevorstehenden Kollaps hinweisen, gegen den Kant ein relativ einfaches Mittel kannte.
Es gibt bei den Studierenden der Betriebswirtschaft einen erheblichen Teil, der so tut, als ob er schon im Aufsichtsrat säße und die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Die Hochschulen fördern das zum Teil noch, indem diese Studierenden Macs bekommen, während die restlichen mit Windows-Rechnern zufrieden sein müssen. Die übrigen Studenten spotten: "Die BWLer kommen erst Dienstags und sind Freitags schon wieder fort." Ein besonders begabter Ehemaliger berichtet, dass er seine guten Noten bekam, obwohl er die meiste Zeit nur "Party gemacht" habe. Und es gibt das Buch einer jungen Journalistin, die ohne größere Kenntnisse, bei der Beratungsfirma McKinsey eine Stelle angeboten bekam.
Offenbar ist einem erheblichen Teil der BWLer überhaupt nicht klar, wie anspruchsvoll das Fach eigentlich wäre: Man müsste auf Grund von solider Kenntnis des Marktes und der Wirtschaftsentwicklung heraus finden, wo die jeweilige Firma ihren Platz, ihre Nische und ihr Auskommen, aber auch langfristige Sicherheit findet. Dabei hat man eine doppelte Verantwortung: Einmal der Firma und ihren Mitarbeitern gegenüber, dass es denen gut geht. Zum Anderen den Bedürfnissen des Marktes gegenüber, denn nur wenn man grundlegende Bedürfnisse befriedigt, ist auf mittlere Sicht ein gutes Geschäft zu erwarten. Zugleich aber trüge man doppelt zum Wohlstand bei: einmal durch die sicheren Arbeitsplätze und zum anderen, indem man die Allgemeinheit mit soliden Gütern und nachhaltigen Dienstleistungen versorgt.
Was geschieht statt dessen? Firmen fördern Energieverbrauch (Standby in vielen Elektrogeräten), Materialverbrauch (Teile austauschen, statt reparieren), Verkehrsaufkommen (viele Güter reisen halb um die Welt ehe sie den Nutzer erreichen, vom Computer bis zum Fisch), oder haben unnötigen Energie- und Materialverbrauch fest eingebaut (Autos, die jeden Handgriff einem Motor überlassen und durch Größe und Ausstattung so klobig wurden, dass die Parkplätze zu eng erscheinen und der Energieverbrauch weit über dem liegt, der eigentlich zum Transport eines oder mehrere Menschen nötig wäre). Hinzu kommen schlampige Verarbeitung, eingebauter Verschleiß und geringe Haltbarkeit. Der Kunde soll möglichst bald ein neueres Modell kaufen. Die Krone setzt dem ganzen die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter auf, die zu rasant steigenden Fehltagen und Frühverrentungen auf Grund von Überbelastung, also psychischen Erkrankungen führen. Dabei steht im Gesetz: Krankmachende Arbeitsbedingungen können mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden.
Die Entscheidungen für diese Fehlentwicklung verdanken wir unter Anderem solchen BWLern, die schon im Studium zu kurz über die Aufgaben ihres Faches nachgedacht haben. BWL ist eben nicht institutionalisierter Egoismus, sondern die Kunst der Balance zwischen den Interessen der Firma und denen der Allgemeinheit
Da passt die Werbung der Postbank ins Bild, bei der sich auch alles nur um das "ich“ dreht, dem die Bank angeblich diene. Die Egozentrik wird gefördert, statt ehrlicher zu sagen, dass es bei jedem Handel, auch dem mit Geld um ein Geben und Nehmen geht, bei dem die Balance stimmen muss. Gibt die Bank zu viele Kredite, wächst die Gefahr einer Pleite, hortet sie dagegen zu viel Geld, bekommt sie Probleme dafür die versprochenen Zinsen zu erwirtschaften. Und aller Werbung zum Trotz soll der Kunde natürlich die Existenz der Bank sichern inklusive der guten Gehälter und nicht immer angemessenen Boni. Da spielen die hübschen blauen Augen des Kunden keine Rolle, auch nicht seine Ehrlichkeit, sondern die Fragen: Hat er Geld, das wir bekommen können? Kann er einen Kredit auch sicher zurückzahlen?
Die Werbung, die dem Kunden suggeriert, dass die Bank nur für ihn da sei, lügt, denn im Idealfall ist auch das ein Handel, bei dem Beide gewinnen. In der Realität ist es öfter so, dass der Kunde, als der Schwächere von Beiden, gegenüber der Bank im Nachteil ist. Das gilt ebenso für Versicherungen und andere große Unternehmen, die im Zweifelsfall das Geld für lange und teure Prozesse haben, während der Normalverbraucher da doch rasch an seine finanziellen Grenzen stößt.
Dass man den Eigennutzen höher stellt, als den Nutzen für die Allgemeinheit, weil man eint damit mehr Gewinn machen zu können, ist aber zu kurz gedacht. Das was man vielleicht bei seinen Kunden mehr an Gewinn macht, geht auf der anderen Seite bei Geschäften mit anderen Firmen, bei Zulieferern oder beim Einkauf von Material wieder verloren, da auch die versuchen ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu ergattern.
Zugleich entsteht der Eindruck, dass man überall übervorteilt werde, also es nur noch mit Leuten zu tun habe, die man nicht als "redliche Makler" oder "ehrliche Kaufleute" bezeichnen würde. Aus dem offenen Markt wird so ein undurchschaubarer Dschungel, den man mit Hilfe von Beratern und Marktforschung zu durchschauen versucht.
Dass unter solchen Rahmenbedingungen Großprojekte aus dem Ruder laufen und Bürger und Politiker mit Erklärungen abgespeist werden, die so dreist gelogen sind, dass es dafür einen Platz im Guinessbuch der Rekorde geben müsste, wundert wahrscheinlich nur noch wenig. Ein Beispiel von Stuttgart 21: Als im 16-gleisigen Stuttgarter Bahnhof Gleis zehn ganz und Gleis acht zum Teil gesperrt waren, behauptete die Bahn, dass dadurch der Betrieb um 30 % eingeschränkt werde und erklärte damit die hohe Unpünktlichkeit der S-Bahn, die keines der beiden Gleise benutzt. 30 % von 16 sind grob gerechnet 5 Gleise, die gesperrt hätten sein müssen. Das kann man im Kopf überschlägig rechnen. Also ist es töricht so etwas zu behaupten, auch, wenn eine gesperrte Weiche mehr als ein Gleis betrifft.
Um zu verstehen, wieso Großprojekte aus dem Ruder laufen, braucht man nur das egozentrische Handeln aller Firmen voraus zu setzen. Dann wird jede Firma zu einem Preis anbieten, von dem sie annimmt, dass sich keiner der Mitbewerber traut den zu unterbieten, damit sie den Zuschlag bekommt. Das muss zu Lasten der Qualität gehen. Um aber dann doch auf ihre Kosten zu kommen, wird die Firma dazu beitragen, dass es zu Änderungen der Pläne kommt, die selbstverständlich nicht im Preis inbegriffen waren. Das führt zur Kostenexplosion und zur Verzögerung der Fertigstellung. Und Dinge, die nicht ausdrücklich in den Verträgen geregelt sind, wird jede Firma tunlichst links liegen lassen. Es fällt auf, dass sowohl beim Berliner Flughafen, als auch bei den Plänen zu Stuttgart 21 der Brandschutz unzulänglich war. Brandschutz ist eine Querschnittsaufgabe die nicht nur erfordert, dass es Fluchtwege und Sprinkler gibt, sondern auch, dass keine Brandgefährlichen Materialien an heiklen Stellen verbaut werden, dass Fluchtwege so gestaltet sind, dass es keine Engpässe, also keine Verstopfung gibt, wenn viele Menschen sie benutzen wollen.
Da bei Großprojekten keiner mehr das Ganze im Blick behalten kann, besteht zudem die Gefahr, dass bei ungeschickter Aufgabenverteilung manche Aufgabe unter den Tisch fällt. Bei der Vorbereitung der Olympiade in London, die rechtzeitig und unterhalb der erwarteten Kosten fertig wurde, hat man deshalb für Transparenz gesorgt, so dass jeder die Pläne kennen und Verbesserungsvorschläge machen oder auf Fehler hinweisen konnte. Dass damit eine gute Qualität erreichbar ist, zeigt Wikipedia, das von den Benutzern selbst geschriebene Internet-Lexikon.
Bei Großprojekten kommen aber weitere Egoismen ins Spiel: Die Politik möchte sich meist mit solchen Bauten ein Denkmal setzen (Pyramiden, Schlösser, Kanäle, Mondlandung, usw.), oder eigenen Fehlern ablenken (Krieg gegen einen äußeren Feind, wenn es im Inneren rumort). Sie ähnelt einem Bürger, der mit einem eigentlich zu teuren Auto liebäugelt und sich lauter Ausreden einfallen lässt, damit er es sich dennoch kaufen kann. Hinzu kommt, dass die Politik das Geld der Bürger ausgibt, nicht ihr eigenes. Genauso ist das Büro, das den Entwurf lieferte, an einer Umsetzung interessiert. Beide denken wieder nur an sich selbst, nicht an das Wohl der Allgemeinheit.
Nun wäre es Aufgabe der Medien solche Luftschlösser zu entlarven und alle Beteiligten wieder auf den Boden der Tatsachen herab zu holen. Aber auch in den Medien ist es üblich geworden, seine Aufgabe möglichst bequem und billig zu erledigen, wobei hier der gewachsene Druck am Arbeitsplatz sich besonders negativ bemerkbar macht. Deshalb wird über die Vorstellung der Pläne berichtet, im schlimmsten Fall einfach die Pressemitteilung abgedruckt, aber außer im Kommentar findet immer seltener eine tief schürfende Analyse statt. Und ein Kommentar, der zeitgleich mit der Projektvorstellung erscheinen soll, kann kaum gründlich sein, weil einfach die Zeit fehlt ein Großprojekt zu analysieren. Obendrein haben nur wenige Redaktionen die personellen Möglichkeiten zur Analyse komplexer Vorhaben und sind meist auf externe Hilfe angewiesen. Die Beurteilung von Großprojekten beruht also auf Lebenserfahrung, aber kaum je auf einer gründlichen Analyse. Das gilt für die Medien genau so, wie für die allermeisten Politiker, obwohl die darüber entscheiden. Fragt man aber nach, kennen sie oft wesentliche Detail gar nicht und stimmen einfach so ab, wie der Fraktionsvorsitzende, denn "der wird sich schon schlau gemacht haben". Kann er gar nicht, schon gar nicht, wenn es um Geheimverträge geht (Lkw-Maut, Cross-Border-Leasing). Da lässt man sich dann auch gerne blenden, von Werbefilmen und Versprechungen, obwohl man eigentlich wissen könnte, dass dahinter handfeste Interessen stehen (Stuttgart 21 sollte ursprünglich von den Grundstückserlösen finanziert werden und 2008 fertig gestellt sein, weil 2010 der bisherige Bahnhof die wachsenden Pendlerströme nicht mehr würde bewältigen können. Mittlerweile liegen die Kosten bei knapp 7 Mrd., wie es Kritiker von Anfang an befürchteten und der eigentliche Bau hat noch nicht mal begonnen).
Dass die Verlässlichkeit von Bahn, Post, Energie aber auch anderen Diensten in den letzten Jahren trotz aller modernen Technik eher zurück ging (die Verspätungen er Bahn nahmen teilweise enorm zu), deutet darauf hin, dass das System an seine Grenzen kommt. Bei der Bahn z.B. wurden Fahrpläne so knapp bemessen, dass eine kleine Störung das Gesamtsystem ins Trudeln bringt, so ähnlich, wie eine Fliege das Spinnennetz zum Schwingen. Ähnliches erleben wir bei Stromnetzen, Verkehrsstaus im Straßennetz, oder bei Winterwetter, wenn plötzlich scheinbar gar nichts mehr geht.
Diese drei Beispiel zeigen, dass "die unsichtbare Hand" oder "der freie Markt" keineswegs das Wohl der Allgemeinheit fördern, weil sie den menschlichen Egoismus zur Haupttriebkraft machten. Es ist einfach zu kurz gedacht, wenn man meint, dass der Einzelne das Wohl der Allgemeinheit schon aus Egoismus fördern werde. Erst recht nicht, wenn das Geld zum Maß aller Dinge wird, wie Banken suggerieren. Der Mensch braucht Geld nur als Hilfstauschmittel, um an die Dinge heran zu kommen, die er tatsächlich braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und ein ganz wesentliches Bedürfnis der meisten Menschen ist Anerkennung der eigenen Leistung, des eigenen Beitrags zum Wohle aller. Nur dann fühlt sich der Einzelne als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft. Dazu gehört aber auch, dass seine Arbeit Sinn-stiftend ist und seine Werte und die Werte seiner Arbeitsstätte übereinstimmen. Muss er dagegen etwas tun, was er für fragwürdig erachtet und bekommt obendrein außer dem Lohn keinerlei Anerkennung, dann besteht die Gefahr, dass dieser Mensch seelisch verhungert oder in eine psychische Krise gerät. Diese Krise kann dann auch im Privatleben zum Scheitern der Ehe, der Trennung von der Familie, von Freunden und Bekannten führen.
Das aber wird für die Gesellschaft dann sehr teuer, denn bereits heute werden zwischen 30  (Männer) und 40 % (Frauen) der Frühverrentungen wegen psychischer Probleme durchgeführt und die Zahl der Fehltage auf Grund solcher Leiden explodiert: (von 2004 bis 2009 verzehnfacht; von 2007 bis 2011 verdoppelt). Dieses riesige Leid von Millionen Menschen wird vor allem dadurch verursacht, dass an vielen Stellen zu kurz gedacht wird (Hauptsache ich, „Geiz ist Geil“).
Und was hat das mit Betriebswirtschaft zu tun? Bevor ein Baum im Sturm bricht, ächzt und stöhnt das Holz, weil es an die Grenzen der Belastbarkeit gekommen ist. Genau an diese Grenzen versuchen aber moderne Management-Methoden (hübsch: Man-age-ment könnte man auch übersetzen, "das, was Leute alt macht") bei den Mitarbeitern zu erreichen: Sie sollen stets und jederzeit Höchstleistung erbringen. Das ist etwa so klug, wie wenn man versuchte nur noch einzuatmen, aber nicht mehr auszuatmen. Manchmal sieht man an der Küste Bäume, die vom ständigen Wind ganz verbogen sind. Sie trotzen ihm, aber ihre eigen Form und ihre mögliche Entfaltung bleiben auf der Strecke. So ähnlich ergeht es Menschen, die ständig unter Druck stehen: Sie funktionieren zwar noch, aber sie selbst, ihre Persönlichkeit bleiben auf der Strecke. Und damit auch ihre Fähigkeit anderen Menschen zu begegnen. So betrachtet sind hohe Scheidungszahlen, zunehmende Einsamkeit und die Scheinlösungen Partnerbörsen und Soziale Netzwerke ebenfalls Folgen des "Zu-kurz-Denkens".
Werbung, die das "Ich" über das Allgemeinwohl stellt, fördert diese falsche Einstellung und führt die Umworbenen in die Irre. Das "ich" gedeiht am Besten, wenn es auch der Allgemeinheit gut geht. Wer in einem armen Land sehr reich ist, braucht Leibwächter und kann sich nicht ungezwungen und frei überall hin bewegen. Schon Samuel Pepys (1633-1703) beschreibt in seinen Tagebüchern, wie mit dem Reichtum die Angst kam.
Wenn wir aber schon bei Großprojekten Probleme bekommen, dann müssen wir davon ausgehen, dass wir auch bei unserem wichtigsten Großprojekt, dem Staat erhebliche Probleme haben, diese aber noch nicht wahrnehmen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die zunehmende Verarmung breiter Schichten (jeder 5. ist armutsgefährdet) langfristig zum Rentenkollaps führt, weil die Armen eben keine ausreichende Vorsorge für das Alter treffen können. Die OECD rechnet auch für Deutschland mit Unruhen, wenn die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander klafft.
Ausgerechnet im reichen Stuttgart nimmt die relative Armut überproportional zu, weil hier auch die Lebenshaltungskosten so hoch sind, dass die bundesweit einheitliche Summe, die Arme bekommen, hier besonders wenig hilfreich ist, während man im "ärmeren" Mecklenburg-Vorpommern damit verhältnismäßig besser lebt. Gäbe es die Billigheimer nicht, also Läden, die niedrige Preise für oft auch minderwertige Ware (Fleisch), oder aber für Ware, die wegen der Ausbeutung Ärmerer in fernen Ländern so billig ist (Textilien), anbieten, dann wäre die Unruhe in der Bevölkerung längst viel größer.
Und all das geschieht, weil zu kurz gedacht wird. Man könnte auch von Kurzsichtigkeit sprechen. Dabei hat schon Kant (1724-1804) gemahnt, man solle stets so handeln, dass das auch als Gesetz für die Allgemeinheit taugen würde, oder wie der Volksmund das vereinfacht ausdrückt:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu,     
das füg auch einem andern zu!
 
Ein Stuttgarter Kaufhaus zeigt den modernen Mann als Gesichtsloses Wesen in der Kleidung einer Firma, deren Namen auf das „Chefsein“ hinweist. Figuren emotionslos und ohne Persönlichkeit. Ein gutes Symbol für unsere Führungseliten! Im Englischen nennt man so etwas „Eggheads“ also Eierköpfe.
Carl-Josef Kutzbach
Donnerstag, 7. März 2013 (vom 28.1.2013)