Die Qual mit der Wahl
 
Warum das Wählen immer schwerer fällt
 
Carl-Josef Kutzbach
Freitag, 13. September 2013
 
Nun ist mal wieder Wahlkampf: Man versucht durch Plakate und Informationsstände Leute von der eigenen Partei zu überzeugen, die sich entweder in der letzten Wahlperiode nicht um Politik kümmerten, wobei gleich ist ob aus Mangel an Gelegenheit oder aus Gleichgültigkeit, oder die man mit der Arbeit in der letzten Legislaturperiode nicht überzeugt hat. Die nächste Wahl wirft also von Uninteressierten, Uninformierten oder Leichtgläubigen entschieden. Sehr Vertrauenserweckend!
Es sieht so aus, als ob in Deutschland verschiedene Einflüsse dazu geführt hätten, dass die Wahlen nicht mehr unbedingt die Aufgaben erfüllen, die sie in einer Demokratie haben.
    1.    Abgeordnete sind Stellvertreter, die von Bürgern gewählt werden, damit sie deren Interessen in Stadt, Land und Republik angemessen vertreten. Deshalb soll der Abgeordnete nur seinem Gewissen verpflichtet sein. Dieses Gewissen wird heute häufig durch Koalitionszwang ausgehebelt. Vor allem wenn es darum geht die Macht einer Partei zu erhalten. Laut Grundgesetz ist die Aufgabe der Parteien „bei der Meinungsbildung mitzuwirken“. Die Parteien sollten also eine dienende Rolle haben, aber schon 1981 stellte Richard von Weizsäcker fest, dass: „die Parteien sich den Staat zur Beute gemacht haben!“
    Es scheint, als ob Organisationen, egal ob Kirche oder Partei, ein eingebautes Interesse am Selbsterhalt und damit auch der Machtentfaltung haben. Das Beispiel der Kirche zeigt sehr schön, wie durch diesen Vorgang etwas völlig Privates und Intimes, wie die Religion, der persönliche Glaube, den man freiwillig annimmt, zu einem Machtfaktor wird. Damit wird die Kirche zu einem Verein, den man nur verlassen kann, wenn man austritt. Das steht in krassem Gegensatz zur Religion, die für jeden Menschen offen ist und nur von dessen Glauben abhängt.
    Ein weiteres Phänomen von Organisationen ist, dass sich an ihrer Spitze häufig diejenigen wieder finden, die am Machtbewusstesten und am Durchsetzungsfähigsten sind. Das nutzt der Organisationen, kann aber auch zu deren Unfähigkeit beitragen sich zu wandeln (Kohls lange Kanzlerschaft). Es sieht so aus, als ob das die Grünen in ihrer Frühphase erkannten und gegenzusteuern versuchten, indem sie die Rotation forderten, also, dass jeder Abgeordnete und jeder Funktionsträger nur für eine gewisse Zeit hätte gewählt werden sollen, um Verkrustungen und Machtmissbrauch zu verhindern. Diese Rotation hat sich nicht bewährt, unter anderem deshalb, weil es gar nicht genügend fähige Köpfe dafür gibt. Das ist schade, denn es spricht einiges dafür, dass die Verkrustungen in der Politik nicht im Interesse des Gemeinwesens sind.
    All das führt dazu, dass sich viele Abgeordnete nicht mehr als Stellvertreter der wählenden Bürger fühlen und entsprechend handeln. Vielmehr erwecken einige den Anschein, dass sie eine Ich-AG zur Selbstvermarktung seien.
    Damit wird aber die eigentlich kluge Idee des Parlamentarismus in Frage gestellt, die vorsieht, dass nicht jeder sich um alles kümmern muss (was er ja auch gar nicht kann), sondern, dass er diese Aufgabe an Menschen delegiert, denen er zutraut, dass sie seine Ansichten teilen und in diesem Sinne Politik machen werden. Parlamentarismus ist also eine Form des Energiesparens! Der einzelne Bürger kümmert sich nur um die Dinge, die ihm ganz besonders am Herzen liegen, überlässt aber den großen Rest jenen Menschen, denen er vertraut, dass sie seine Interessen angemessen vertreten.
    Abgeordnete sind also durchaus auch Interessenvertreter, sollten das allerdings nicht im Sinne von Minderheiten sein (FDP und Hoteliers), sondern sie sollten das Allgemeinwohl an die erste Stelle setzen und dann schauen, ob die Interessen ihrer Wähler sich mit dem Allgemeinwohl verknüpfen lassen.
    Ein Beispiel, an dem man die Schwierigkeit dieser Güterabwägung erkennen kann, ist die Automobillobby: den Firmen ist an möglichst hohen Gewinnen gelegen, den Mitarbeitern an sicheren Arbeitsplätzen, allen Bürgern an einer gesunden sauberen Umwelt und einem sicheren Straßenverkehr. Wenn die Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union im Interesse der Firmen strengere Umweltschutzstandards verhindert oder hinauszögert, dann handelt sie gegen das Allgemeinwohl und vielleicht sogar gegen die langfristigen Interessen der Firmen, denn, wenn diese bei Umweltschutztechnik ins Hintertreffen geraten, könnte das zu Absatzproblemen in anderen Ländern führen, in denen umweltfreundlichere Autos bevorzugt werden. Die Bundesregierung müsste sich also eigentlich, entgegen den Wünschen der Autolobby, aber in deren und der Bürger wohlverstandenen langfristigen Interesse für stärkere Umweltschutzstandards eintreten.
    Diese komplizierten Überlegungen müsste eigentlich jeder Abgeordnete für sich durchdenken und dann entsprechend entscheiden. Dabei ist davon auszugehen, dass nicht alle Abgeordneten zum selben Schluss kommen, weil ja auch ihre persönlichen Biografien und damit ihr Kenntnisstand und ihre Gefühle unterschiedlich sind. Der Parlamentarismus geht davon aus, dass durch die Debatte im Parlament die Argumente abgewogen werden und man zu einer sachgerechten, dem Allgemeinwohl verpflichteten Lösung komme. Das ist vielleicht etwas zu idealistisch gedacht, weil es möglicherweise die Fähigkeiten der Abgeordneten übersteigt zwischen den eigenen Interessen, zum Beispiel Ansehen im Wahlkreis und bei Firmenlenkern, und dem Allgemeinwohl zu unterscheiden. Besteht Koalitionszwang, kann er sich all diese Überlegungen ersparen, braucht nicht um eine angemessene Lösung zu ringen und braucht sein Gewissen nicht zu strapazieren. Weil er sich durch Koalitionszwang eine Menge Arbeit ersparen kann, dürfte ihn mancher Abgeordnete insgeheim als sehr bequem empfinden.
    Andererseits muss man der Fairness halber sagen, dass sich ein Abgeordneter mit so vielen verschiedenen Themen beschäftigen soll, dass es ziemlich unrealistisch ist zu glauben, er könne das fundiert und angemessen tun. Wer es nicht glaubt, der soll doch bitte mal sämtliche Drucksachen des Parlamentes zusammenstellen, die ein Abgeordneter im Laufe eines Jahres theoretisch lesen sollte. Es wäre nicht überraschend, wenn deren Umfang so groß wäre, dass die Arbeitszeit eines ganzen Jahres für diese Lektüre nicht ausreicht.
Fazit:
Die Abgeordneten haben sich längst vom Ideal entfernt, sind aber unter Umständen auch von der Aufgabe, für die man sie gewählt hat, überfordert.
 
    2.    Die Wähler sollten im Idealfall die zur Wahl Stehenden kennen und beurteilen können. Das mag im Gemeinderat ganz gut funktionieren, wird aber schon auf Landesebene schwierig und ist auf Bundesebene unrealistisch.
    Deshalb ist neben die Persönlichkeitswahl die Wahl der Parteien getreten, die den Bürger mit ihren Programmen und Wahlversprechen für sich einnehmen wollen.
    Die Programme der Parteien sind so etwas, wie die Speisekarte im Aushang eines Restaurants: Sie soll einem den Mund wässrig machen und zum Betreten des Lokals verleiten. Aber das Beispiel Speiselokal zeigt gleich auch einige Probleme dieser Programme auf:
    Wie soll man wählen, wenn man A die Speisekarte gar nicht kennt, weil man zum Beispiel gar nicht in den Schaukasten geschaut hat, oder B sie nicht lesen kann, zum Beispiel weil sie fremde Gerichte (Chinese, Inder, Perser, Italiener, Grieche...) enthält, unter denen man sich nicht vorstellen kann? C könnte es passieren, dass man nur schnell irgend etwas essen will und deshalb gar kein Interesse an der Speisekarte hat, oder wegen eines plötzlichen Schauers in das Lokal flüchtete. D könnte es sein, dass man jeden Tag in dieses Lokal geht und davon ausgeht, dass die Küche einen schon nicht vergiften wird (schon in deren eigenem Interesse) und es im Grunde gleichgültig ist was man vorgesetzt bekommt, weil einem die Küche liegt, oder kein anderes Lokal in der Nähe ist. Also isst man jeden Tag das Tagesessen, komme was da wolle. E könnte natürlich im Urlaub oder bei einem Auslandsaufenthalt passieren, dass die Speisekarte in einer Sprache verfasst ist, die man nicht beherrscht.
    Ob Wahlprogramme beim Bürger ankommen hängt also zunächst einmal davon ab, ob er sich überhaupt dafür interessiert. Es könnte ja sein, dass der Bürger davon ausgeht, dass die Parteien ihre Ansichten von Legislaturperiode zu Legislaturperiode ändern, und es sich für ihn deshalb gar nicht lohnt sich die Parteiprogramme der für ihn infrage kommenden Parteien zu besorgen und zu lesen. Ein deutliches Indiz für den Wandel der Ansichten bietet das Aalener Programm der CDU von 1949, in dem noch die Verstaatlichung der Schlüsselindustrieen gefordert wurde. Man sollte diese Wandlungsfähigkeit der Parteien durchaus nicht nur negativ sehen, denn jeder Mensch ändert sich im Laufe seines Lebens und es liegt nahe, dass auch Organisationen so etwas wie einen Lebenslauf haben und sich ändern müssen.
    Nimmt man die Wahlprogramme ernst und betrachtet sie als idealen Fahrplan der jeweiligen Partei für den Fall, dass sie an die Macht käme, dann müssten sie so verständlich verfasst sein, dass sie jeder wahlberechtigte Bürger versteht, also auch der mit geringerer Bildung. Gegen dieses Ideal spricht, dass die Medien, die bei weniger Gebildeten beliebt sind, ein entsetzliches Niveau aufweisen. Es ergibt sich also die Frage: „Wie viel Mühe darf man dem Bürger bei der Lektüre von Wahlprogrammen zumuten?“
    In der Praxis sieht es wohl eher so aus, dass Parteistrategen die Programme erarbeiten und wenig Ahnung von der Lesefähigkeit ihrer Mitbürger haben, weil sie ganz einfach von sich selbst ausgehen. Professor Dr. Frank Brettschneider, Leiter des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, hat die wichtigsten Wahlprogramme auf Verständlichkeit und Umfang hin untersucht. Auf einer Skala zwischen 0, also völlig unverständlich und 20, also sehr verständlich, die er als "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" bezeichnet, wurden die Parteiprogramme eingestuft. Lag 2009 der Mittelwert noch bei 9 Punkten sank er 2013 auf 7,7 Punkte. Zum Vergleich: Doktorarbeiten zur Politik erreichen 4,7 Punkte, eine Boulevardzeitung 16,8.
    Aber nicht nur die Verständlichkeit, auch der Umfang schreckten ab: mit fast 83.000 Wörtern ist das Wahlprogramm der Grünen doppelt so umfangreich, wie die anderer Parteien.
    Was die interessierten Leser auch abschrecken dürfte sind Fachbegriffe die nur Kennern der Szene bekannt sind, wie sie sehr häufig bei den Piraten verwendet werden. Auch Bandwurmwörter, wie das  „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ tragen nicht zur Lesbarkeit bei.
    Die Rangfolge der Parteien und ihrer Programme im Verständlichkeitsindex: sieht 2013 so aus: CDU/CSU mit 9,9 an der Spitze, die Grünen mit 8,4 auf Platz 2 abgerutscht. Ebenfalls verschlechtert haben sich die SPD mit 7,3 und ebenso die FDP. Schlusslicht ist die Piratenpartei mit 5,8. Ein kleiner Trost: die Kurzfassungen der Parteien schneiden erheblich besser ab.
    In der Pressemitteilung der Universität Hohenheim zum Thema heißt es:
„Das ist enttäuschend“, urteilt Prof. Dr. Frank Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil der Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“
 
  1. Die Parteien haben also das vorhandene Wissen seit 2009 nicht genutzt um ihre Arbeit den Bürgern besser zu vermitteln. Die Ausrede, die Welt sei in den vier Jahren wesentlich komplizierter geworden, ist unglaubwürdig.
  2. Es wäre interessant zu wissen, ob sich in diesen vier Jahren die Sprachkompetenz der Bürger verändert hat. Wer öffentliche Verkehrsmittel benutzt, hört manchmal Sprachfetzen, die mehr aus Urlauten, denn aus ganzen Sätzen bestehen. Aber: wer „Ey echt cool Alder“ sagt, muss noch lange nicht unfähig sein einem kompletten Satz zu verstehen.
  3. Andererseits bestehen Speisekarten in Abfütterungsstätten heute oft nur noch aus Bildern mit Preis drauf, was nicht gerade auf Lesefähigkeiten oder Leselust hinweist.
  4. Möglicherweise war das Kanzlerduell symptomatisch für die Kommunikationsweisen zwischen Politik und Bürgern: Herausforderer Steinbrück ratterte Zahlen und Fakten herunter, während Kanzlerin Angela Merkel langsam ziemlich unpräzise Aussagen machte, die aber darauf angelegt waren Deutschland und seine Bürger in gutem Licht dastehen zu lassen, was ein gewisses Wohlgefühl erzeugen sollte. Steinbrück sprach zum Intellekt, Angela Merkel zum Herzen. Der Bürger hat nun die Wahl, ob er Politik als eine Angelegenheit des Geistes, oder des Herzens betrachten will. Es ist wie schon in Kurt Tucholskys Ratschlägen für Redner:
  5. „Tatsachen, oder Appell ans Gefühl. Schleuder oder Harfe.“
  6. Nun sollte man meinen, dass die Politik, also das Herausfinden was wohl für die Allgemeinheit am besten wäre, eine Aufgabe für den Verstand sei. Die Wahl jedoch wird häufig von Gefühlen entschieden. Darauf weisen ja auch die vielen Wahlplakate mit den Köpfen drauf hin, die alle so fotografiert wurden, dass der Abgebildete möglichst vorteilhaft erscheint. Und das ist ja auch verständlich, denn der Mensch entscheidet in einer Viertel Sekunde ob ihm ein Gesicht zusagt oder nicht. Und wer würde schon jemanden sein Vertrauen und seine Stimme schenken, der äußerlich nicht vertrauenswürdig erscheint?
  7. Andererseits haben Appelle ans Gefühl in Deutschland schon viel Schaden angerichtet, etwa im Nationalsozialismus oder bei der Jagd auf Andersdenkende auch nach dem Krieg. Und könnte nicht der Rückgriff, oder der Rückfall auf Gefühle ein Hinweis darauf sein, dass der Politikbetrieb entweder das Vertrauen der Bürger verloren hat, oder ihm als undurchschaubar kompliziert erscheint?
  8. Was wäre, wenn unser Gemeinwesen in seiner Kompliziertheit die Mehrheit der Bürger überfordert? Die Parteiprogramme können Politik ja offenbar nicht verständlicher machen, weil es ihnen selbst an Verständlichkeit fehlt. Soll man vom Bürger weniger fordern (wie in den USA)? Soll man auf all zu Kompliziertes (z.B. unübersichtliche Großprojekte) verzichten? Wie müsste man damit umgehen, wenn der Bürger die Politik nicht mehr versteht, oder ihr nicht mehr vertraut?
  9. Nicht wählen gehen? Das bewirkt (außer in Berlin in einem Sonderfall) gar nichts, genau so wenig, wie die ungültige Stimmabgabe, denn jeder Abgeordnete kann davon ausgehen, dass dieser Versuch von Protest nicht ihm persönlich gilt. Außerdem verstärkt Wahlboykott die Bedeutung der kleinen Parteien, was ebenfalls nicht für eine stabile Regierung sorgt. Also: Man sollte wählen gehen, aber es ist diesmal besonders schwer.
Fazit:
Der Wähler weiß nicht recht, ob er mit Kopf oder Herz wählen soll und die Parteien sind kaum in der Lage ihre Programme, geschweige denn ihre Politk verständlich zu vermitteln.
 
    3.    Die Zahl der Parteien hat zugenommen. Bestimmten jahrzehntelang CDU/CSU, SPD und FDP das Geschehen in der Bundesrepublik, so kam mit den Grünen eine Partei in die Parlamente, die darauf hinwies, dass die drei etablierten Parteien eine Aufgabe (nämlich Umweltschutz) unbeachtet liegen gelassen hatten. Schon vorher hatten rechte und linke Splittergruppen darauf hingewiesen, dass die etablierten Parteien nicht mehr allen Bürgern eine politische Heimat an zu bieten vermochten. Das verstärkte sich in dem Maße, wie Konservative und Sozialdemokraten die Mitte für sich beanspruchten. Aus diesem Grunde fand sich auch die Linke als Sammelbecken enttäuschter Sozialdemokraten, aber auch als Nachfolgepartei der SED in den neuen Bundesländern in einigen Parlamenten wieder. Daneben entstanden Parteien mit eingeschränktem Fokus, etwa die Grauen, die sich um die Belange der Alten kümmerten, oder die Piratenpartei, die vor allem Internet-Themen behandelt.
    Bei einem 2-Parteien-System ist die Wahl für den Wähler einfach: Entweder A, oder B.
    Bei einem 3-Parteien-System, wie es die Bundesrepublik lange Zeit kannte, kann eine kleine Partei, damals die FDP, zum Zünglein an der Waage werden und bekommt dadurch eine Macht, die ihr aufgrund der Wählerstimmen gar nicht zusteht.
    Bei einem 4-Parteien-System, wie es zunächst durch die Grünen entstand, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Blöcke bilden, wie schwarz-gelb und rot-grün. Das ähnelt dem Zweiparteiensystem. Ob das dem Wählerwillen entspricht, ist eine andere Frage, denn der könnte ja auch eine Ampelkoalition oder eine große Koalition bevorzugen.
    Mit noch mehr Parteien wird die Sache noch unübersichtlicher und das bedeutet, dass der Wähler immer weniger davon ausgehen kann, dass seine Vorstellungen in der Politik auch umgesetzt werden.
    Koalitionszwang und Blockbildung sind eigentlich im Parlamentarismus so nicht erwünscht, weil im Idealfall im Parlament ja ein Wettbewerb der Ideen und Gedanken stattfinden soll, der dann zur bestmöglichen Lösung führen würde. Auch das Verlegen von politischen Debatten in Ausschüsse hat dem Parlament nicht gut getan. Ebenso wenig, dass die Qualität der Redebeiträge nicht unbedingt zum Zuhören reizt. Ja es ist angeblich sogar zulässig das Manuskript einer Rede abzugeben und diese Rede als gehalten zu betrachten. Solche Erscheinungen führen dazu, dass der Bürger dem intellektuellen Austausch der Parlamentarier nicht mehr traut, ja ihn vielleicht auch nicht mehr verfolgt und deshalb der Politik sein Vertrauen entzieht. Wobei man präzise unterscheiden müsste zwischen Partei-Verdrossenheit und Politik-Verdrossenheit.
    Die Demonstrationen in Stuttgart gegen die Tieferlegung des Hauptbahnhofes zeigen, dass Bürger sich von der Politik teilweise im Stich gelassen, oder überfahren fühlen und dann verärgert sind, weil die von ihnen Gewählten die ihnen übertragenen Hausaufgaben nicht erledigt haben (Diskussion von Vorhaben, Prüfung von Vorhaben, Prüfung des Bürgerwillens, Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit). Wenn, wie in Stuttgart, zunächst Verträge geschlossen werden und dann erst das Projekt in seiner ganzen Tragweite erkundet wird, braucht sich niemand über verärgerte Bürger wundern. Das ist nicht mal fragwürdige Parteipolitik, sondern das sind schlichte handwerkliche Fehler. Dass sich scheiternde Großprojekte häufen (Berliner Flughafen, Wilhelmshavener Tiefseehafen, Bahnprojekte, Hamburger Opernhaus) oder häufig Gesetze wegen Mängeln vom Verfassungsgericht kritisiert werden, zeigt, dass die Politik nicht gründlich genug gearbeitet hat. Allerdings sind manche Großprojekte so unübersichtlich groß, dass eine parlamentarische Kontrolle nicht mehr funktioniert. Hier müssten die Abgeordneten auf einer Stückelung der Projekte in mehrere Abschnitte bestehen, die sich dem Einzelnen  noch vermitteln lassen, und damit vom Parlament noch kontrolliert werden können.
    Wenn dann noch verschiedene Parteien vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit anderen demokratisch gewählten Parteien ausschließen, dann wird deutlich, dass für viele Politiker der Machterhalt, oder der Erhalt ihres Abgeordnetenmandats wichtiger ist, als das Allgemeinwohl. Das sieht man zum Beispiel auch daran das die regierenden Parteien im Bundestag acht mal eine Verschärfung der Regeln zur Abgeordnetenbestechung verhindert haben.
Fazit:
Die Parteien haben es sich in Deutschland gemütlich gemacht und dabei Tugenden des Parlamentarismus über Bord geworfen. Das führt bei politisch interessierten Bürgern zu Verdruss.
 
    4.    Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist allen interessierten Bürgern klar geworden, dass auch das Wahlverfahren Einfluss auf den Ausgang der Wahl nimmt. Schon 2009 hätte eigentlich nach einem neuen Wahlverfahren gewählt werden sollen, dass zwar eine gewisse Verbesserung gegenüber dem vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungsgemäß kritisierten Wahlverfahren darstellt, das aber durchaus auch hätte anders gestaltet werden können.
    Schaut man sich die bisherigen Umfrageergebnisse an, dann gibt es nur zwei Regierungsmöglichkeiten mit Sicherheit nämlich Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot. Das bedeutet: Wer zum Beispiel rot-grün an der Macht sehen möchte und deshalb die Grünen wählt, oder die SPD, der kann damit ein Weiter-Regieren der CDU/CSU verursachen, obwohl er das gar nicht wollte. Die Wahrscheinlichkeit dass die FDP wieder in den Bundestag einzieht und damit Schwarz-Gelb fortgesetzt werden kann, liegt bei knapp 80 %. Die Wahrscheinlichkeit für eine Koalition aus SPD Linke und Grünen liegt bei nicht mal 14 %. Dieses aktuelle Beispiel zeigt, dass Wähler, die eine andere Politik wünschen, diese unter Umständen mit ihrer eigenen Stimme verhindern. Das ist einer der Gründe dafür, dass noch relativ viele Bürger unentschieden sind, wie sie abstimmen werden.
    5.    Wer wen wählt, hängt auch davon ab wie die Lebensumstände sind, fand die Universität Leipzig bei einer medizinisch-sozialwissenschaftlichen Studie. Die reichsten Wähler bevorzugen FDP und Grüne; die Piraten-Wähler sind im Schnitt sehr jung CDU/CSU Wähler im Schnitt recht alt. Im Osten ist die Linke stark und die SPD schwach. Besonders auffallend ist, dass Nichtwähler und Rechte eine hohe Ängstlichkeit und Neigung zu Depressionen zeigen. Sie gehören aber auch zu den ärmsten Wählern. Die Gebildetesten wählen die Grünen aber auch 1/4 der FDP Piratenpartei und linken Wähler haben Abitur. 1/3 der Arbeitslosen will nicht wählen und für Arbeitslose spielte die FDP fast keine Rolle. Dass die Wähler der Piraten jünger sind als die anderer Parteien verblüfft wenig. Jüngere bevorzugen die Grünen aber auch rechte Parteien. Bei Letzteren scheinen die Ewiggestrigen auszusterben, aber 2/3 sind männliche Wähler, während die Grünen von Frauen bevorzugt werden. Dass SPD Wähler eher in Städten zu finden sind als auf dem flachen Land ,ist nicht neu. Umgekehrt sind dort mehr unentschlossene Wähler, als in den Städten.
    Auffallend ist der gute Gesundheitszustand der Wähler von Piraten, Grünen und FDP während CDU/CSU, Nichtwähler und rechte Wähler ihren Gesundheitszustand eher als schlecht einstufen. Auffallend ist auch, dass die relativ jungen Wähler der Piratenpartei hohe Werte bei Ängstlichkeit zeigen. Dass Katholiken eher die CDU/CSU wählen während Protestanten und konfessionslose eher die SPD wählen, dürfte nicht wirklich neu sein.
    Es ist interessant, dass offenbar die Lebensumstände der Menschen mit ihren politischen Einstellungen häufiger verquickt sind, als man das der Wahrscheinlichkeit nach erwarten sollte. Es ist aber gut nachzuvollziehen, dass Menschen die arm und ängstlich sind, sich nach klaren Verhältnissen und einfachen Spielregeln sehnen. Und umgekehrt kann man auch verstehen, dass Gebildete, die auch noch gut verdienen, eher bereit sind Neues auszuprobieren.
    Sollte diese Forschung über einen längeren Zeitraum fortgeführt werden, dann könnte man unter Umständen herausbekommen, ob eine bessere Vorbeugung und Betreuung von Depressionen, oder eine Verringerung der Armut sich auch im Wahlverhalten niederschlagen.
Fazit:
Das Wahlergebnis gibt nicht nur darüber Auskunft welche Politik die Bürger wünschen, sondern auch darüber, wie es den Bürgern geht.
 
Ein Wahlverfahren, bei dem Wähler unabsichtlich zu einer Regierung führen können, die Sie gar nicht wählen wollten;Abgeordnete, die überfordert sind und deswegen den Koalitionszwang als Entlastung für ihr Gewissen betrachten; Parteien denen es um Machterhalt, statt um das Allgemeinwohl geht und die politische Maßnahmen auch danach beurteilen, wie sie wohl zum Machterhalt beitragen; Bürger die sich nicht zwischen Herz und Hirn entscheiden können; eine Verbesserungsbedürftige Darstellung der politischen Programme, und Lebensumstände die sich auch auf das Abstimmungsverhalten auswirken, passen mit dem Ideal des Parlamentarismus als einem Verfahren zum Finden der besten Lösungen eigentlich nicht zusammen.
Der Bürger ahnt oder weiß, dass unser politisches System nicht optimal ist, es vielleicht auch gar nicht sein kann. Der Bürger hat aber in der Finanzkrise erkannt, dass es nicht gut tut, wenn ein Werkzeug, wie das Geld, eine Eigendynamik bekommt und damit auch einen eigenen Wert, der in keinem Verhältnis zu seiner eigentlichen Aufgabe steht. Geld dient dazu den Austausch von Waren und Dienstleistungen einfacher zu gestalten als beim Tauschhandel.
Genauso müsste eigentlich in der Politik die Macht nicht Ziel der Politik sein, sondern die Macht müsste dem Ziel „das Allgemeinwohl zu fördern“ untergeordnet werden. Wenn aber die Akteure in der Politik den Machterhalt, oder das Erringen von Macht als das Allerwichtigste betrachten, dann tut das dem allgemeinen Wohl nicht gut. Der Bürger spürt vermutlich mehr, als er es gedanklich erkennt, dass in der Politik eine Verschiebung von Werten stattgefunden hat, die wahrscheinlich mindestens so gefährlich ist, wie die Finanzkrise und auf ähnlichen Fehlbewertungen beruht.
Fazit:
Es gibt also sehr viele Gründe für die Bürger bei dieser Wahl nicht zu wissen, wen sie wählen sollen. Einerseits, weil die Auswahl nicht berauschend ist. Andererseits, weil das mögliche Ergebnis nicht unbedingt mit dem gewünschten Ergebnis übereinstimmen muss. Und drittens weil unser politisches System Tendenzen zeigt, die auf eine dem Allgemeinwohl schädliche Entwicklung hindeuten.
Es könnte sein, dass wir nach der Wahl über eine Renovierung, oder gar Sanierung unseres politischen Systems und seiner Funktionsweise nachdenken müssen.